In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
zahlreichen Blutzeremonien erwähnt, von dem Blick dieses Knaben mit den großen braunen Augen fasziniert zu sein. An jenem Abend gab es noch einen anderen Jungen im Kerker. So wurde Jean-Pauls Leben verschont und er selbst zu einem starrenden Maskottchen jener Gräueltaten stilisiert, die in diesen Jahren auf den Burgen Tiffauges, Machécoul, La Suze sur Sarthe und Saint Étienne de Malemort hinter verschlossenen Türen ereigneten.
Gilles de Rais fand es geradezu religiös bewegend, das Gemüt eines kleinen Jungen mit Bildern zu überhäufen, die nicht einmal das Auge der blutrünstigsten Ritter im Hundertjährigen Krieg trafen. Er wollte ein solches Kind erst nach einigen Monaten töten, es auf den selben rauen Tisch legen, auf dem bereits so viele andere Kinder verwelkten und die Blutströme zu beobachten, die sich im Rhythmus des noch pulsierenden Herzens aus dem aufgeschnittenen Rachen vergossen. Und dann in genau jenem Augenblick, in dem das geheimnisvolle Pneuma die blassen Lippen des Knaben verlässt, den eigenen Körper von Wallungen der Lust durchschütteln lassen.
So evoziere man Dunkle Engel, so erwecke man Dämonen der Hölle, die zum Reichtum verhelfen konnten. So zumindest verstanden es seine beiden Cousins Roger de Briqueville und Gilles de Sille, zwei abgebrannte Adelige, die nicht selten selbst dem Monster die Opfer zuführten. Aber Gilles de Rais musste nicht erst herausfinden, dass sich hinter dem alchemistischen und schwarzmagischen Deckmantelchen genau das verbarg, was er schon immer tun wollte. Das hatte er als Jüngling schon gefühlt und als Ritter gewusst. Es war tausendmal reizvoller, als Bankette mit blassen Adelsfrauen, die sich Jungfrauen nannten und davon genauso entfernt waren, wie er selbst von der Frömmigkeit. Es war triumphaler, als der Einmarsch in Orléans, an der Seite von Jeanne d’Arc, die auf einem geschenkten Pferd und in geliehener Rüstung durch Frankreich ritt. Er fand schließlich selbst, dass ihre, wie auch seine Verdienste hierbei stark übertrieben wurden.
Er verstand nichts von Dunklen Engeln, Dämonen und dem Teufel. Nicht wirklich. Er war ein Diener Christi, wie jeder Edelmann es sein sollte. Und vor Orléans stand er einem Engel näher, als er jemals einem Dämon nahe stehen sollte.
Sein Feldzug an der Seite der Johanna von Orléans fand im Geburtsjahr von Jean-Paul Laurentius statt. Doch das wusste Gilles de Rais nicht und es spielte auch sonst keine Rolle. Das Leben ist voller seltsamer Parallelen und Koinzidenzen. Es ist nicht das Problem, dem Appetit zu folgen, in diesen Mustern und Zufällen einen Sinn zu erkennen. Das Problem besteht darin, dass um sie zu betrachten, wir sie isolieren und aus dem komplexen Netzwerk unzähliger Ereignisse herausreißen müssen. Doch dadurch sind sie ihrer ursprünglichen Authentizität beraubt und wir nicht mehr im Besitz aller Fakten.
Der Junge stand von nun an in zerrissener Kleidung und mit zerzausten Haaren an einer vergitterten Tür, das Gesicht zwischen die Hände gedrückt, die jeweils einen Eisenstab umklammerten. Er stand dort und sah zu, denn wenn er sich weigerte, ketteten die Schläger des Marschalls einfach nur seinen Kopf an das Gitter und prügelten auf ihn ein. So sah er freiwillig zu und wartete, bis der Tag kam, an dem Gilles de Rais die Lust an diesem Spiel verlor und auch ihn aus dem Käfig holte, um ihm Bauch und Rachen aufzuschneiden und das Gesicht des Kindes mit seinem Samen zu besudeln.
Jean-Paul sah zu. Er sah allen Schrecken, den der Mensch befähigt ist zu erschaffen. Er sah alles entsetzliche, das auf Erden entfacht werden kann. Und jeglicher Horror, der ihm jemals noch hätte begegnen können, würde sich nur als ein unmotivierter Remix, als ein verwässerter Abklatsch dieser Augenblicke anfühlen. Seine Augen waren dunkel unterlaufen und der Schmutz in seinem Gesicht verschmiert durch Tränen. Es heißt Jean-Pauls Tränen hätten ausgereicht, um einen Bottich damit zu füllen, in dem ein erwachsener Mensch baden konnte. Er hatte so viele Tränen geweint, dass es keine Tränen mehr auf diese Welt zu weinen gab. Zumindest nicht für ihn. Und so vergoss er danach nie wieder eine. Sechs Jahrhunderte lang und darüber hinaus.
Und so wie Gilles de Rais niemals ein Erweckungserlebnis gebraucht hat, um die Wahrheit über seine Neigungen zu erfahren, sondern einfach nur eines Tages begonnen hat, diesen Neigungen zu folgen, so brauchte auch Jean-Paul Laurentius kein Erweckungserlebnis, das ihm
Weitere Kostenlose Bücher