In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
Raum hängt an jeder Wand ein mächtiges Kreuz, dessen unteres Ende sich mindestens einen Meter über dem Boden befindet. Und an jedem Kreuz befindet sich ein Mensch. Sie sind regungslos, sicherlich tot. Doch nicht sehr lange.
Ich knie mich hin und repariere eilig die Lampe. Ich zünde sie mit einem frischen Streichholz an. Ihr unruhiges, blasses Licht erfasst uns schließlich.
Auf einem der Tische liegt eine Zeichnung.
Wie knapp ich ihn wohl wieder verpasst habe, denke ich. Doch vielleicht ist es auch eine Botschaft an mich.
Ich nehme das Papier und studiere es näher unter der Laterne. Es ist mit gekonnten, vielleicht sogar talentierten Tuschestrichen gezeichnet und stellt offensichtlich eine Stadt dar, gesehen aus einer recht hohen Perspektive. In der Mitte des dichten Dächermeers ragt ein massiver Turm zum Himmel.
Die Unterschrift spart nicht mit Geschmacklosem:
„Für Locartes,
meinen Bruder im Geiste,
in Liebe,
Stagnatti.“
Plötzlich erklingen Stimmen. Ich blicke von der Zeichnung und hebe die Lampe über meinen Kopf. Sind es die Stimmen der Toten? Ich kann es nicht erkennen. Das Flüstern ist wie ein leiser, vierstimmiger Gesang. Ich versuche auf die Worte zu achten, die sich zu einem Kanon vermischen. Wie ein Mantra wiederholen die Stimmen immer die selben Worte:
„Goa, Kaschgar, Samarkand.
Aden, Sanaa, Dongola.
Cayenne, Manaos, Santarem.
Macao, Batavia, Manila.“
Jemand schüttelt mich am Arm.
„Wach ma’ auf, Alter“, höre ich hinter mir.
Die Nacht der Wiedergeburt
Aus Jan Kámens Tagebuch
http://alle-straende-sind-luegen.de/david.selig/log/019.txt
Wo soll man anfangen zu beschreiben, wo soll man beginnen zu erzählen? Wie soll man einer Wahrheit gerecht werden, die aus so tiefem Schmerz geboren wurde?
Ich lebe nun unter Menschen, die sich nicht der Vernunft verschrieben haben. Vieles in ihrem Leben ist durchdrungen von irrationalen Momenten, die voller Fragen sind, doch niemand macht Anstalten, sie zu beantworten. Hier scheint niemand nach der Weltformel zu suchen, obwohl hier der Gral näher wäre, als in jedem Forschungszentrum der Welt. Und so ist auch niemand beunruhigt durch die geradezu mythisch anmutenden Anfänge der Lux Aeterna : der Geschichte von Adam Kadmons Geburt und Kindheit.
Kein berühmter Barde oder großer Dichter ist nun zur Stelle, um dieses moderne Illias zu besingen und so muss meine unbeholfene Schreibe hier dienen und das festhalten, was bereits im Brodem vergangener Geschichtsglättung vergessen und im Smog der modernen Ignoranz verdrängt wurde.
Diese geheimnisvollste aller Geschichten begann im Jahr 1429, als Jean-Paul Laurentius in Sant Nazer geboren wurde, das heute Saint-Nazaire heißt. Er war eines von acht oder neun Kindern. Sein Vater war Guiseppe Laurentius, ein einfacher Mann italienischer Abstammung, der ein Fischerboot besaß, mit dem er - so wie bereits Jean-Pauls Großvater - des Nachts auf die See hinausfuhr. Jean-Pauls Mutter war eine Bretonin und bereits ihre Schwester war in die Familie Laurentius eingeheiratet.
Zu lange liegen diese Ereignisse zurück und nur wenig mehr, als das hier genannte, ist bekannt. Ob Jean-Pauls Verschwinden in einer kalten Oktobernacht in 1437 besonderes Aufsehen erregte, darf bezweifelt werden. Das Leben galt damals als das vergänglichste Gut auf Erden. Nur die Seele konnte die Unsterblichkeit beanspruchen. Und in jenen Jahren waren verschwundene Kinder keine Seltenheit im Süden der Bretagne.
Jean-Paul Laurentius erwachte in einem Kerker und es war ihm bestimmt, dort nicht länger als drei Tage zu verweilen, denn das war die längste Zeit, die ein Knabe in diesen Verließen überlebte. Denn der Herr des Hauses, über den später Dichter und Forscher wuchtige Bände verfassten, fasziniert von dem Versuch, eine Bestie solchen Ausmaßes zu verstehen, liebte das Fleisch der Knaben. Er liebte ihr Blut. Er war besessen von jenem Augenblick, in dem der Hauch des Lebens dem geschundenen Körper entweicht. Wie gebannt studierte er oft die offenen, verkrusteten Lippen der dahinscheidenden Kinder. Er stierte gebannt, beinahe mitleidvoll in ihre aufgerissenen Augen. Stets in der Hoffnung etwas von dem zu erblicken, für das er keine Worte fand. Jean-Paul blieb länger als drei Tage in den Kerkern von Marschall Gilles de Rais. Es wurden über hundertundfünfzig.
Es heißt, Roger de Briqueville, der Cousin des Marschalls, der nur des Goldes wegen an den Exzessen teilnahm, hätte während einer der
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