In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
ihr. Wir betraten ein Vorzimmer, aber nach einigen Sekunden begriff ich, dass es dort nicht mehr gab. Das Apartment, soweit dieser Ausdruck angebracht war, mutete durchaus sehr sauber an und war in gutem Zustand. Trotz der Leere des Zimmers war die Enge etwas bedrückend. Ich hatte ja Glück, dass das WC und die Dusche überhaupt in einem separaten Raum waren. Frau Yang erzählte etwas über die Kochnische, doch ich hörte kaum zu. Nachdenklich schritt ich die »Wohnung« ab, um festzustellen, dass die Zelle von Ulrike Meinhof bestimmt größer gewesen sein muss. Ich öffnete die Balkontür und trat hinaus. Es war ein kalter Novembertag, und so zog ich den Kragen meiner Jacke hoch. Unten auf der Straße sah ich die beiden Mädchen, die mir auf der Treppe begegnet waren, vorbeischlendern. Meine Augen folgten ihnen, bis sie um die Ecke verschwanden. Das Haus gegenüber, das beinahe die gesamte Sicht einnahm, war ein typisches graues Mietshaus. Es besaß nebeneinander fünf Eingänge und schmale Alleen, die sie mit der Straße verbanden. Im späten Herbst wirkte hier alles öde und trostlos. Irgendwo im Haus begann jemand auf einer Tuba zu intonieren.
Ich trat zurück ins Zimmer. Frau Mahr hatte sich inzwischen eine Zigarette angezündet und wartete geduldig. Langsam drehte ich mich um meine eigene Achse. Fünf Schritte längs, vier Schritte quer, maß ich wiederholt mit meinen Augen. Vierhundert Mark.
»Ich nehme es«, hörte ich meine Stimme sagen.
Sie nickte mit einem Ausdruck von Selbstverständlichkeit, als hätte sie niemals etwas anderes erwartet.
»Drei Monatsmieten Kaution«, teilte sie mir mit. »Letzte Novembertage Sie können wohnen umsonst. Erster Dezember — erste Miete zahlen. Herr Mahr wird Ihnen Schlüssel geben.«
Eine deutsche Frau hätte wohl von ihrem Mann gesprochen, doch Frau Mahr sprach stets von Herrn Mahr. Sie erzählte etwas von einer Hausratsversicherung und davon, dass es hier kein Ungeziefer gäbe. Ich nickte abwesend.
Dann rief sie noch vom Gang: »Warten Sie hier auf Herr Mahr. Vielleicht Sie kriegen gleich den Schlüssel.«
Warten musste ich nicht sehr lange. Herr Mahr stand plötzlich vor mir. Er erinnerte mich viel mehr an Gert Fröbe, und so beschloss ich, ihn Goldfinger zu nennen. Er war ein kleiner Mann mit wenig Haarwuchs, Bierbauch und einem bereits ergrauten Oberlippenbart. Seine glasigen braunen Augen wirkten traurig und leblos, während seine schmalen Lippen für Ausgleich sorgten. Er redete schnell und impulsiv, in abrupten Sätzen. Beim Sprechen vermied er es, mich anzublicken. Ich vermutete, dass das seine Art war, sich auf das Gesprochene zu konzentrieren. Vielleicht aber nutzte er auch die letzten Augenblicke, um sich im Zimmer umzusehen und dessen Zustand zu inspizieren, um später etwaige Beschädigungen reklamieren zu können.
Es wäre falsch zu sagen, dass Herr Rufus Mahr jemand war, der keinen Eindruck hinterließ. Dennoch konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass alles an ihm darauf ausgerichtet war, keinen Eindruck zu hinterlassen. Er erschien wie ein simpler, gemütlicher Zeitgenosse, der mit großer Wahrscheinlichkeit dem Fußball und dem Bier frönte und den großen Teil seines Tages damit verbrachte, über allesmögliche zu meckern und zu mosern, während er abends bei einem Weizen mit seinen Freunden die Ereignisse im Dritten Reich zerredete. Aber alles in harmloser, kumpelhafter Manier. Schuld sind die Österreicher und der Versailler Vertrag. Und hätte man sich die SS gespart, wäre Barbarossa ein Erfolg.
Das Problem mit Goldfinger war, dass er irgendwie zu sehr bemüht war, harmlos zu wirken. Später begegnete er mir noch oft draußen auf dem Gang, wenn er an mir vorbeieilte, mit der Kaiserin an seiner Seite und einer Werkzeugtasche über der Schulter, über die SPD-Regierung schimpfend. Doch seiner Erscheinung haftete stets ein Hauch des Ungereimten an. Die BILD-Zeitung, die jeden Tag in seinem Briefkasten steckte, landete zu oft ungelesen in der blauen Papiertonne. Und seine Frau war keine thailändische Ex-Hure, sondern eine Chinesin. In der äußeren Brusttasche seiner Arbeitsmontur steckte häufig eine wuchtige Zigarre, und an seinem Gürtel hing ein Walkie-Talkie, so auffällig, dass man sich früher oder später fragen musste, wer das andere Gerät dazu besaß.
Doch es waren vor allem Mahrs Augen, die aus dieser eher hässlichen Fassade herausblickten und nur schwer eine gewisse Kaltblütigkeit und Souveränität verbergen konnten.
Weitere Kostenlose Bücher