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In den Städten, in den Tempeln

In den Städten, in den Tempeln

Titel: In den Städten, in den Tempeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Horst & Brandhorst Pukallus
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Nebengang und kam genau auf sie zu. Die Frauen und Männer waren bis auf Stirntücher, die weit den Rücken hinabfielen, vollkommen nackt. Auf ihren Leibern zeigten sich bizarre Tätowierungen und Farbmale: Sonnen, grelle Explosionen, berstende Sterne, riesenhafte Augen, Felsmonumente. Die Brüste der Frauen waren mit den Darstellungen auseinanderstiebender Tränen geschmückt, und von den Dreiecken zwischen ihren Schenkeln leckten Flammenzungen den Bäuchen entgegen. Die Männer hatten Stimulatoren an ihren Penen befestigt; Perlenketten hingen von ihren Erektionen herab. Fast jeder Sejeg hielt eine Elektrogeißel, die er dann und wann erhob, um sich selbst einen Schock zu versetzen. Andere fuhren sich mit metallenen Stangen, die über spitze Stachel verfügten, über den Rücken. Wurmartige Parasiten zeigten sich auf Armen und Beinen, und kleine Blutfäden sickerten über den winzigen Kiefern hervor, die sie ihren Wirtskörpern ins Fleisch gebohrt hatten.
    Shan Dreistern rührte sich nicht, und Clay schwankte.
    »Wir rühmen dich, Schmerz, denn du warst der ständige Begleiter der Pioniere, die diese Heimat schufen. Wir segnen euch, ihr Granite unserer neuen Siedlungsräume, die ihr weichen müßt den automatischen Armen des Menschen, dem es in eurer schützenden Umarmung nach Selbstverwirklichung begehrt. Wir segnen euch mit unserem Schmerz, den die Maschinen nicht empfinden können ...«
    Die Sejeg schritten an der winzigen Nische vorbei. Keiner blickte zur Seite. Niemand entdeckte die beiden lebenden Schatten.
    Clay dachte an den Blitzwerfer, an Carin und Shereen. Er atmete tief durch, sog die frische und unvergiftete Luft tief in die Lungen und konzentrierte sich auf seine blockierte Kraft. Er stieß sich von der Wand ab, und noch bevor Shan Dreistern die Hand ausstrecken konnte, um ihn festzuhalten, taumelte er mitten in die Prozession hinein. Der Boden schien unter Clays Füßen in die Tiefe zu sinken. Das Bild vor seinen Augen schwankte. Er suchte nach Halt, seine Hände tasteten über Brüste und fühlten den plötzlich durch seine Glieder zuckenden Schmerz, der vom Schock einer Elektrogeißel hervorgerufen wurde. Es verursachte ein schrilles Aufheulen, als seine Fingernägel über die Saiten einer Elektronischen Laute fuhren. Er ließ sich mittreiben – er wußte nicht, wie lange; niemand stieß ihn fort. Um ihn herum dröhnte der Chorus.
    »Lob dir, Venus, Mutter der Hitze und der Stürme. Lob dir, Fels. Lob dir, Schmerz, der du eine neue Welt schufst. Schmerz soll die neuen Kavernen segnen, Schmerz den Menschen, die hier leben werden, ein neues und besseres Leben gewähren. Wir sind die Schmerzerfüllten Jünger des Einzigen Gottes, und wir leiden stellvertretend für alle anderen ...«
    Irgendwann sank Clay auf die Knie. Kaum jemand schenkte ihm Beachtung. Die Sejeg waren so in ihre Schmerzekstase vertieft, daß ihn offenbar niemand richtig wahrnahm. Vor seinen Augen schwammen noch immer die Nebel der Benommenheit; einmal blickte er zurück, und er war ungemein erleichtert, als er nirgends einen dahinhuschenden Schatten sah.
    »Ja, Bruder«, sang neben ihm eine dumpfe Stimme. »Gesell dich nur zu uns. Erfahre den Schmerz der Pioniere ...« Clay hob den Kopf und starrte auf ein strammes Glied, das wie eine Lanze nach oben zeigte. Der Sejeg beugte sich zu ihm hinunter, griff in ein tönernes Gefäß und holte einige wurmartige Parasiten hervor. Clay schüttelte müde den Kopf. »Ja, Bruder, jetzt bist du eins mit den Ersten. Spürst du den Stolz, der einst auch sie beflügelte?« Die Blutsauger krabbelten über seine Jacke und gruben ihre Beißkiefer durch den Stoff in seine Haut. Clay gab ein dumpfes Stöhnen von sich, und der Sejeg nickte anerkennend. In seinen Augen klebte ein trüber Traum. Ein Halluzinogen vielleicht oder einfach nur drogenunabhängige Ekstase.
    Die Prozession marschierte über Clay hinweg, und alle gaben sich die größte Mühe, nicht auf ihn zu treten oder ihn anzustoßen. Die Motoren der Grabmaschine heulten auf; die Kettenglieder ruckten an und schoben mehrere Tonnen Stahl in die Halle zurück. Die Sejeg zogen winkend an dem Automaten vorbei, und bald darauf verklang ihr Gesang in der weiten Geräumigkeit der Großkaverne. Clay zwinkerte und kroch auf den Eingang eines Seitentunnels zu. Die Parasiten klebten an ihm und saugten ihm das Blut aus den Adern. Der gerinnungshemmende Speichel, den sie dabei absonderten, verursachte ein äußerst schmerzhaftes Stechen, aber wie die

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