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In den Städten, in den Tempeln

In den Städten, in den Tempeln

Titel: In den Städten, in den Tempeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Horst & Brandhorst Pukallus
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Schritten trat Claybourne ans Geländer und stützte sich auf die alten Aluminiumrohre. Sankt Damokles füllte sein gesamtes Blickfeld aus, eine wuchtige, schwere, unbestimmt bedrohliche Präsenz. Von der Terrasse, die sich in ungefähr halber Höhe befand, führte eine verwinkelte Treppe aus rohen steinernen Stufen, ebenfalls mit einem Alu-Geländer versehen, hinunter zur Sohle der geräumigen, überkuppelten Mulde, die dem reglosen ferroplasmischen Klotz als Domizil diente.
    Eine dünne Spur Ferroplasma führte quer über den Steinboden der Terrasse und endete an ihrem Rand – am Ende nur noch daumenbreit – in einem tentakelartigen Stummel, der sich wie eine schräge, zerlaufene Kerze nach oben reckte, geronnen in nahezu lasziver Gebärde vereitelten Sehnens. Die Vereinigung der Ferroplasma-Königskinder hatte nicht stattgefunden. Sie war an zwölf oder fünfzehn Meter zuviel gescheitert.
    »Schwebt er wirklich?« fragte Claybourne die Ribeau, als sie ihn einholte.
    »Selbstverständlich.«
    »Gib mir Daten, Tasche«, befahl Clay, ohne sich umzublicken.
    Tasches Ultraschalltaster nahmen innerhalb von Sekundenschnelle echographische Messungen vor. »Die Ferroplasmamasse hat eine annäherungsweise rechteckige Form mit einer Ausdehnung von rund zweihundert beziehungsweise einhundertzwanzig Meter Kantenlänge sowie einer Dicke von etwa fünfzig Meter, woraus sich umgerechnet ein Volumen von ungefähr zwölftausend Kubikmeter ergibt. Die Masse liegt rundum frei und befindet sich in der Schwebe. Unten beträgt der mittlere Abstand zum Felsboden fünf Meter, an den Seiten im Mittel fünfzehn Meter, oben besteht bis zum Scheitelpunkt der Kuppel ein Abstand von fünfunddreißigeinhalb Meter. Die Substanz weist in ihrer Konsistenz Ähnlichkeit mit Hartgummi auf. Ihr spezifisches Gewicht ...«
    »Danke«, unterbrach Clay hastig. Nichts wäre ihm jetzt unangenehmer gewesen, als Angaben zum Gewicht Sankt Damokles' zu hören.
    »Ich hätte es als Ehre betrachtet, Ihnen diese Informationen persönlich geben zu dürfen, Mr. Dalmistro«, sagte hinter ihm eine hohe, seidenweiche Stimme. Er fuhr herum. Das breite Gesicht eines alten, in eine schwarze Robe gekleideten Asiaten lächelte ihn an. Der Mann verbeugte sich feierlich.
    »Professor Dr. Kuranosuke Oishi«, stellte die Ribeau ihn vor. »Wissenschaftlicher Leiter der Sankt-Damokles-Forschungsabteilung an der Zentralvenusischen Universität der Botschaften auf dem Winde.«
    Clay nickte zum Gruß. »Ich wußte nicht, daß es auf der Venus auch eine Universität gibt«, sagte er lasch.
    »Du weißt über die Venus noch vieles nicht«, bemerkte Marita gedämpft.
    Nun fiel Clay auf, daß die schwarze Robe des Professors unverkennbar dem weiten, schwarzen, ungewohnt dezenten Gewand ähnelte, das die Sphärenschwimmerin anläßlich der bevorstehenden SDJ angezogen hatte; es glich einem langärmeligen, geschlossenen Abendkleid, dessen Saum den Boden streifte. Schnitt und Faltenwurf waren bei beiden Kleidungsstücken von gleichem Stil. Möglicherweise gehörte diese Tracht zum Ritual. Allerdings hatte niemand dagegen Einwände erhoben, daß er seine hellblaue FI-Kombination trug.
    »Sie kommen früh, Comptroller«, stellte Professor Oishi fest.
    »Mit Absicht. Ich habe diesen ... äh ... Brocken ja noch nie gesehen.« Clay ließ den Blick über Sankt Damokles' körnige Oberfläche wandern. »Man kann sich schwer vorstellen«, fügte er nachdenklich hinzu, »daß in einem derartigen Klotz so etwas wie Leben stecken soll. Daß das Ferroplasma aktiv ist, davon habe ich mich schon genügend überzeugen können.« Er lachte kurz auf, als er merkte, wieviel Ironie in dieser Äußerung lag, ohne daß er sie wissentlich so formuliert hatte. »Aber fühlt es? Kann es richtig denken?«
    »Die Konzeption geopsychischen Lebens ist, obwohl die Forschung sich nun seit fast vierzig Jahren damit beschäftigt, noch relativ neu, Mr. Dalmistro«, erwiderte der Wissenschaftler mit geruhsamer Langsamkeit, als solle seine Antwort ein Ausdruck der Geduld sein, die diese Forschungen erforderten. »Der Fakt, daß das Ferroplasma mit seiner Umwelt in Interaktion steht, beweist uns, daß es eine Form von Leben ist, ja. Aber noch immer bleiben zahlreiche Fragen offen. Ist es intelligent, oder war es einmal intelligent? Und wenn, auf welche Stufe ist diese Intelligenz einzuordnen? Kommt sie der eines Haustiers oder eines Gelehrten gleich? Ist es in der Tat geopsychisch oder in Wahrheit geomental? Selbst nach

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