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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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wie die Erinnerungen hochkamen und sich in Erzählung verwandelten.
    »Glauben Sie an Gott, Doktor?«
    Sein Gegenüber sah ihn leicht verwundert an, antwortete nicht sogleich.
    »Ob ich an Gott glaube? Haben Sie schon einmal den Namen Blaise Pascal gehört?«
    »Nein.«
    »Pascal war ein französischer Philosoph des siebzehnten Jahrhunderts. Ein Philosoph und ein bedeutender Mathematiker. Berühmt unter anderem durch die so genannte Pascalsche Wette.«
    »Und was ist die Pascalsche Wette?«
    »Pascal sagte, dass es sich lohnt, auf die Existenz Gottes zu setzen. Ich erspare Ihnen die ausführliche Argumentation, aber kurz gefasst ist der Sinn, dass es sich lohnt, auf Gottes Existenz zu wetten, weil wir in diesem Fall unendlich viel gewinnen. Sollte sich hingegen herausstellen, dass es Gott nicht gibt, haben wir nichts verloren und wenigstens eine vom Glauben beglückte Zeit verbracht. Soweit Pascal.«
    Roberto versuchte, sich die Idee zu eigen zu machen. Sie war durchaus reizvoll, wenn auch in gewisser Weise schwer greifbar.
    »Mir ist das nicht ganz klar«, meinte er schließlich.
    Der Doktor antwortete nicht. Er sah ihn an, presste die Lippen zusammen und bewegte dabei leicht den Kopf. Er versuchte offensichtlich, eine Situation unter Kontrolle zu halten, die sich nicht erwartungsgemäß entwickelte.
    »Haben Sie Angst vor dem Tod?«
    »Streng genommen müsste ich Ihnen jetzt sagen, dass das – meine Haltung zum Jenseits und meine Angst im Diesseits – nicht zu unseren Themen gehört. Streng genommen.«
    »Entschuldigung.«
    »Nachdem ich diese Vorbemerkung gemacht habe und es ansonsten mal nicht so streng nehme, würde ich jedoch sagen, dass der Tod nicht mein liebster Gedanke ist. Die wirklich störende Vorstellung ist für mich allerdings das, was ihm vorausgehen kann. Dieses Vorspiel würde ich mir gern ersparen.«
    »Mir fallen gerade Dinge aus meiner Kinder- und Jugendzeit ein.«
    »Erzählen Sie.«
    »Mir fallen die Kaugummiautomaten ein, die mit den runden, bunten Kugeln. Erinnern Sie sich?«
    »Erzählen Sie weiter.«
    »Also, mir kommen diese Automaten in den Sinn und Erdnussbutter. Und Snickers und Marshmallows … und jetzt fällt mir auch ein, wie mein Vater mich einmal zu den Lakers mitgenommen hat.«
    »Ist das nicht ein Basketball-Team?«
    »Die Lakers sind die beste Basketballmannschaft der Welt. Eine der Mannschaften aus Los Angeles. Meine Mannschaft.«
    Plötzlich war der Duft von Popcorn wieder da, das Raunen der Menge, wenn Kareem Abdul-Jabbar einen seiner Himmelshaken setzte, die glatte Pappe eines Coca-Cola-Bechers. Er erinnerte sich an das karierte Jackett seines Vaters, an seinen Schnauzbart. Er sah ihn direkt vor sich, während er auf ihn einredete, nach After-Shave und Zigaretten duftend.
    Sie kommentierten gerade einen Spielzug, vielleicht sprachen sie aber auch über etwas anderes. Roberto verfolgte die Szene wie ein außenstehender Betrachter und konnte nicht hören, was sie sich sagten. Irgendwann klopfte der Mann dem Jungen kameradschaftlich auf die Schulter. Roberto dachte, dass er sich wahrscheinlich nicht mehr lange beherrschen konnte. Bald würde er anfangen zu weinen und nicht mehr aufhören können.
    »Mein Vater war Kommissar, das habe ich Ihnen bereits gesagt. Wir wohnten am Stadtrand. Von unserem Haus bis zum Meer waren es höchstens zehn Minuten. Und ein paar Minuten mehr bis nach Dana Point, wo man sehr gut surfen kann. Meine Mutter war Übersetzerin. Eines Morgens klingelten Kollegen meines Vaters bei uns und holten ihn ab. Es war ein wunderschöner Tag, ein Samstag. Für den Vormittag waren phantastische Wellen angekündigt. Wenige Tage später beging er Selbstmord im Gefängnis. Ich habe so gut wie keine Erinnerung an die darauffolgenden Wochen, aber sechs Monate später waren wir schon in Italien, im Elternhaus meiner Mutter. Sie hatte es zirka ein Jahr vorher geerbt und hatte mit meinem Vater beschlossen, es zu verkaufen. Danach ist meine Mutter nie wieder ins Ausland gefahren, und ich bin nie wieder nach Kalifornien zurückgekehrt.«
    Er hatte diese Dinge mit einer monotonen, ausdruckslosen Stimme erzählt. Der Doktor atmete tief durch. Roberto spürte plötzlich Wut in sich hochsteigen, die sich unerwarteterweise gegen den Mann richtete, der ihm gegenübersaß.
    Es folgten ein paar Minuten drückenden Schweigens. Dann platzte es aus Roberto heraus.
    »Natürlich wollen Sie gar nicht wissen, warum mein Vater verhaftet wurde. Aber selbst wenn Sie es mich fragen

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