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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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würden, würde ich es Ihnen nicht sagen. Ich habe es satt, nach Regeln zu spielen, die Sie allein aufstellen.«
    »Weshalb wurde Ihr Vater verhaftet?«
    Roberto machte eine unwirsche Geste.
    »Er nahm Geld von den Betreibern von Bars, Restaurants und Nachtclubs. Wer zahlte, wurde in Ruhe gelassen, wer nicht zahlte, dem machte er das Leben schwer.«
    Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich habe noch nie jemandem davon erzählt.«
    »Sie wären sonst in Kalifornien geblieben, stimmt’s?«
    »Ja. Wissen Sie, was absurd ist?«
    »Was?«
    »Ich bin nicht etwa wegen seiner Straftaten wütend auf meinen Vater, sondern deshalb, weil er sich umgebracht und mich im Stich gelassen hat. Verdammt.«
    Er hörte auf zu sprechen. Er knetete sich die Hände, erst die eine, dann die andere. Er zupfte sich am Kinn. Er rieb sich das Gesicht.
    Und dann kamen die Tränen.

Giacomo
    Mittlerweile grüßen Ginevra und ich uns jeden Morgen, wenn wir in die Schule kommen, und manchmal auch, wenn wir die Schule verlassen, außer wenn sie es sehr eilig hat. Gestern passierte etwas völlig Neues: Sie rief mich beim Namen.
    Der Satz war folgender: »Giacomo, hast du einen Stift übrig? Meiner schreibt nicht mehr.«
    Wir schrieben gerade einen Aufsatz, und theoretisch hätte man den Vorfall als unwichtig betrachten können. Sie wollte einen Stift von mir, und wie hätte sie mich sonst rufen sollen, wenn nicht bei meinem Namen?
    Aber in meiner Schule nennen wir uns meistens beim Nachnamen. Den Vornamen verwendet man nur, wenn man wirklich befreundet ist. Und das bedeutet, dass der Vorfall sehr wohl wichtig ist.
    Ich dachte, dass ich sie in meiner Antwort auch beim Vornamen nennen müsste, was ich noch nie getan hatte. In der Klasse gibt es nur zwei Mädchen, die beim Vornamen gerufen werden. Ich habe es nicht geschafft, aber in den nächsten Tagen will ich es unbedingt wieder probieren.
    Ich nahm mir auch vor, ein paar Songs für sie zusammenzustellen, mit den Liedern, die ich besonders gern mag. Sie stammen alle aus der Zeit vor meiner Geburt. Sachen, die meine Eltern hörten, wie die Rolling Stones, Led Zeppelin, die Dire Straits. Ich könnte sie auf einen USB-Stick laden und ihr irgendwie zukommen lassen. Das wird natürlich nicht einfach, denn ich will nicht, dass es jemand bemerkt, aber wenn es soweit ist, wird mir schon etwas einfallen.
    Ich muss es zugeben: Ich glaube, ich bin unsterblich verknallt in Ginevra.
    * * *
    Heute Nacht hat Scott mich zum See geführt, dem mit dem klaren Wasser, das aussieht wie in einem Swimming-Pool. Er meinte, wir könnten dort baden. Ich sprang kopfüber hinein – jetzt, im Nachhinein, glaube ich, dass ich auch komplett angezogen war – und glitt wie ein Fisch unter der Wasseroberfläche entlang, durch das blaue, durchsichtige Wasser. Ich muss sofort eine Anmerkung machen: Ich kann überhaupt keinen Kopfsprung, und ich kann zwar einigermaßen schwimmen, aber tiefes Wasser macht mir Angst, so wie eine ganze Reihe anderer Dinge auch.
    Im See des Parks war es anders. Ich fühlte mich in Sicherheit und schwamm sehr viel, auch unter der Oberfläche, mit offenen Augen und guter Sicht, so als hätte ich eine Taucherbrille auf. Auch Scott war hineingesprungen und mit mir geschwommen, wir spielten und hatten eine Menge Spaß. Als wir aus dem Wasser kamen, waren wir trocken, und das mag von dieser Warte aus merkwürdig erscheinen, aber in dem Moment erschien es mir vollkommen selbstverständlich.
    »Scott?«
    Was gibt es, Chef?
    »Wir sind hier in einem Traum, nicht wahr?«
    Ich denke schon, Chef.
    »Ich frage dich, weil mir das alles ganz real vorkommt.«
    Scott setzte sich vor mich und neigte den Kopf zur Seite, in Erwartung dessen, was ich ihn gleich fragen würde.
    »Hat das, was ich hier tue oder sage, irgendwelche Auswirkungen auf die … reale Welt?«
    Ich hatte den Eindruck, als lächelte Scott, bevor er mir antwortete.
    Fast alles, was in der realen Welt passiert, hängt damit zusammen, was du auf dieser Seite tust und sagst, Chef. Und umgekehrt. Das wissen viele nicht, aber genau so ist es.
    Dieser Satz war ein wenig rätselhaft, und ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich verstanden hatte, was Scott mir damit sagen wollte. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber je mehr ich mich bemühte, die Bedeutung dieses Satzes zu erfassen – und zu verstehen, was er mit Ginevra und mir zu tun hatte –, desto mehr entglitt er mir.
    Dann verschwamm alles, und ich wachte auf.

13
    Am Samstagabend kam er nach einem

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