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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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langen Spaziergang nach Hause, duschte und machte sich etwas zum Abendessen. Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, fiel sein Blick auf die Tüte aus dem Buchladen, die seit ein paar Tagen in der Küche lag. Zerstreut nahm er das Buch heraus, das er für Emma gekauft hatte, schlug es irgendwo auf und las ein paar Seiten.
    Gar nicht schlecht, die Geschichte dieses mysteriösen William Shakespeare aus Stratford-upon-Avon. Ohne es zu merken, blätterte er zum Anfang zurück und las dann den ganzen Abend bis tief in die Nacht. Er machte am nächsten Morgen weiter, las den ganzen Nachmittag über und wieder den Abend durch. Gegen Mitternacht war er fertig und befand, dass die Erfahrung ungewöhnlich und interessant gewesen war. Er hatte innerhalb von zwei Tagen ein ganzes Buch gelesen, und das war ihm auch noch normal erschienen. Diese Natürlichkeit war das Seltsamste an der ganzen Sache. Bisher hatte er immer geglaubt, dass Lesen mit Anstrengung, Planung und viel Zeit verbunden war. Eine Tätigkeit für wenige Privilegierte. Und jetzt stellte sich plötzlich heraus, dass Lesen dasselbe war wie Trinken, Essen, Laufen oder Atmen – oder es zumindest sein konnte.
    Zu irgendetwas muss das gut sein, sagte er sich, als er das Licht ausmachte und sich die Decke zurechtzog, um kurz darauf in Tiefschlaf zu versinken.
    Als er am Montagmorgen erwachte und auf die Uhr sah, merkte er, dass er beinahe neun Stunden geschlafen hatte, ohne Unterbrechung.
    Das war ihm zum letzten Mal vor vielleicht zwanzig Jahren passiert.
    * * *
    Auf dem Weg zur Praxis des Doktors fing es an zu regnen, und sofort tauchten an allen Straßenecken die dunklen Gesichter der Regenschirmverkäufer auf. Roberto kaufte einen Schirm, den er seiner Sammlung einverleiben würde: Er besaß einen Schirm für jeden Regenguss, der ihn in den Monaten zwischen Herbst und Frühjahr überrascht hatte.
    Gegen zwanzig vor fünf war er bei der Praxis angekommen. Er hatte vorgehabt, in der Nähe des Tors mit gleichgültiger Miene auf- und abzuspazieren und zu warten, bis sie aus dem Haus kam. Aufgrund des heftigen Regens wirkte diese Aktion weit weniger natürlich als geplant. Er erwog, sich in der Bar unterzustellen, aber er verwarf die Idee gleich wieder. Wenn sie aus dem Tor kam, würde sie sofort Richtung Auto oder sonst wohin loslaufen, um nicht nass zu werden. Die einzige Möglichkeit, ein paar Worte zu wechseln, bestand deshalb im Treppenhaus. Diese Tatsache war ihm unangenehm, aber er sah keine Alternative. Er klingelte in der Praxis und hörte keine Antwort, aber wie gewöhnlich ging der Türsummer nach ein paar Sekunden, und das Tor war offen.
    Er wartete noch etwa zehn Minuten, ohne dass jemand herauskam oder eintrat. Um zehn vor fünf hörte er schließlich, wie jemand die Treppe herunterkam. Es waren schnelle Schritte, beinahe wie von einem Mann. Roberto fragte sich gerade, ob es vielleicht jemand anderes war, als ihm Emma auf dem Treppenabsatz entgegenkam. Sie sah ihn, noch bevor sie ganz unten war, und blieb erstaunt stehen. Dann stieg sie die untersten Stufen langsam herab.
    »Guten Abend«, sagte sie, als sie unten angelangt war.
    »Guten Abend.«
    »Es regnet wirklich heftig.«
    »Ja, es kam ganz plötzlich, aber ich habe einen Schirm gekauft.«
    »Wenn das ein Drehbuch wäre, müsste man die letzten Sätze unbedingt umschreiben. Das können wir besser.«
    »Sie haben recht, aber Sie schüchtern mich ein.«
    »Soll ich das als Kompliment nehmen?«
    »Ich denke, ja. Darf ich Sie etwas fragen?«
    »Natürlich.«
    »Sind Sie hier in Behandlung …?«
    »Ja. Sie auch, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Aber ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich harmlos bin und kein Wahnsinniger. Jedenfalls nicht besonders. Sind Sie wahnsinnig?«
    Das war gut gesagt. Sie fing plötzlich an zu lachen. Ein schönes, herzliches Lachen.
    »Manchmal schon, glaube ich. Früher war ich überzeugt, es zu sein, aber heute geht es besser. Nein, ich glaube, ich bin nicht wahnsinnig, auch wenn der Doktor meint, dass wir es alle sind.«
    »Ja, ja, ich weiß. Der Unterschied besteht darin, dass manche mit ihrem Wahnsinn zurechtkommen und manche nicht.«
    »Dann sind Sie schon einen Schritt weiter, so gut wie geheilt.«
    »Warum?«
    »Der Doktor hat mir das erst gesagt, als es mir schon besser ging, viele Monate, nachdem ich die Sitzungen angefangen hatte. Ich glaube, vorher hätte ich es nicht verstanden.«
    »Fänden Sie es aufdringlich, wenn ich Ihnen das Du anbieten

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