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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Sitzung teilte ihm der Doktor mit, dass er am Donnerstag auf einen Kongress fuhr und sie sich deshalb erst in einer Woche wiedersehen würden, am folgenden Montag.
    Roberto vernahm die Nachricht zwar, aber erst als er auf der Straße stand, wo der Regen unerbittlich herunterprasselte, wurde ihm klar, was das bedeutete.
    Seine Rundgänge durch die Stadt, seine Gedanken, sein Schlaf, seine Mahlzeiten, der Fernseher, der Computer, rauchen, trinken, Sport treiben, sich waschen, Essen zubereiten, einkaufen, alles drehte sich um die Termine Montag, siebzehn Uhr, und Donnerstag, siebzehn Uhr.
    Der Kongress des Doktors setzte das Zentrum seines Sonnensystems außer Kraft und löste eine schwere Erschütterung seines Bewusstseins aus. Während er durch den Regen lief, den der Schirm nur teilweise von ihm abhielt, so dass er bald vollkommen durchnässt war, überkam Roberto die angstvolle Vorstellung von der unförmigen Zeit, die vor ihm lag. Ein spiegelglattes Meer, eine riesige leere Fläche ohne Begrenzungen, ohne Land am Horizont.
    Die Woche floss zäh dahin, und jeden Tag drückte unablässig ein enger Ring auf seinen Kopf, gegen den auch keine Medikamente halfen.
    Roberto quälte sich mühsam – als müsse er ein Gewicht tragen, das viel schwerer war als sein eigener Körper – durch Tage, die alle gleichförmig ineinander übergingen.
    Er wachte morgens früh auf und ging abends spät schlafen. Er durchstreifte beharrlich die Stadt im Regen, der den größten Teil der Woche beinahe ohne Unterlass fiel. Er aß vollkommen durchnässt in Imbissstuben und armseligen Lokalen am Rand der Peripherie, an Orten, die er schon eine Stunde später nicht mehr wiedergefunden hätte. Er rauchte feuchte Zigaretten im Schutz von Mauervorsprüngen oder Laubengängen. Zwei Mal glaubte er, vertraute Gesichter zu erkennen, aber er wusste nicht, wem sie gehörten, und wollte es auch nicht wissen. Beide Male wandte er den Blick ab und ging fluchtartig weiter.
    Am Sonntag waren die Kopfschmerzen weg.
    Am Montagmorgen tauchte Roberto aus dem dunklen, schlammigen Teich auf, den er mit angehaltenem Atem durchquert hatte.

Giacomo
    Ich habe die Songs für den USB-Stick zusammengestellt. Es war nicht leicht, die Stücke auszuwählen, und ich brauchte dafür mehrere Tage, auch weil ich beschlossen hatte, dass es nicht zu viele sein durften und vor allem nichts, was ihr nicht gefallen könnte. Ich wollte auf Nummer sicher gehen.
    Am Schluss hatte ich folgende sechs Lieder ausgesucht: Time Is on My Side von den Rolling Stones, Everybody Hurts von R.E.M., Tunnel of Love von den Dire Straits, Don’t Stop Me Now von Queen, With or Without You von U2 und schließlich Stairway to Heaven von Led Zeppelin. Das ist mein Lieblingslied, weil es mich an etwas Schönes erinnert, allerdings weiß ich nicht mehr, woran.
    Ich hatte auch überlegt, dieser Zusammenstellung einen Titel zu geben, aber alle, die mir einfielen, waren ungeeignet, beziehungsweise richtig bescheuert. Wie etwa Songs für Ginevra oder Giacomo’s Selection oder anderes schleimiges Zeug, das ich nicht einmal hier aufschreiben will.
    Letztendlich beschloss ich, auf einen Titel zu verzichten, packte den USB-Stick in meine Schultasche und trug ihn mehrmals zwischen Zuhause und Schule hin und her, ohne dass sich eine Gelegenheit bot oder ich den Mut fand, ihn ihr zu geben. Jetzt hat sie sich krankgemeldet und fehlt schon zwei Tage. Ich habe mir auch überlegt, sie anzurufen, aber ich habe ihre Handynummer nicht, und außerdem würde ich mich sowieso nie trauen, sie anzurufen.
    Gestern Abend habe ich ihr nach einer Stunde Zögern die Freundschaft auf Facebook angeboten. Mal sehen, was passiert.
    * * *
    Ich hatte einen Albtraum, was mir schon lange nicht mehr passiert ist.
    Ich saß auf meinem Bett und hatte das Gefühl, hellwach zu sein, als ich Flügelrauschen hörte. Ich wollte das Licht anmachen, doch da sah ich im Halbdunkel eine Taube, die auf der Lampe saß und mich ansah.
    Kurz darauf entdeckte ich zwei weitere Tauben, die neben dem Bett auf dem Boden saßen. Nein, nicht zwei, es waren mehr, fünf, oder vielleicht auch sechs, sieben, oder gar zehn. Vielleicht auch zwanzig. Jetzt waren sie überall, auf der Kommode, auf dem Schreibtisch, auf dem Stuhl, sogar auf dem Bett. Das Zimmer war voller Tauben, und von irgendwoher kamen immer mehr herein. Sie saßen auf dem Schrank, auf der Lampe, auf dem Fußball. Und jetzt sahen sie mich an. Sie waren alle grau, was in der Dunkelheit wie schwarz

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