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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Es gab Städte auf der Welt, in denen er wenige Wochen verbracht hatte und die er wesentlich besser kannte als Rom.
    »Jetzt sage ich dir noch etwas.«
    »Schieß los«, sagte sie wie jemand, der ein Spiel spielt, bei dem es eine Menge Überraschungen geben wird.
    »Ich war noch nie im Kolosseum und habe noch nie das Forum Romanum besichtigt. Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt keine von den Sehenswürdigkeiten von Rom besichtigt.«
    »Machst du Witze?«
    »Nein.«
    »Das gibt’s doch nicht. Die Leute kommen aus aller Welt, um diese Dinge zu sehen. Und du wohnst nur ein paar Meter entfernt und bist noch nie dort gewesen.«
    Roberto fand das nicht besonders wichtig. Vielleicht war es ja auch wichtig, aber er konnte die wichtigen Dinge offensichtlich nicht von den unwichtigen unterscheiden.
    »Dann bringe ich dich in den nächsten Tagen dorthin. Das ist einfach unverzeihlich. Wir nehmen das Motorrad an einem sonnigen Sonntagnachmittag und spielen ›Ein Herz und eine Krone‹, bloß mit vertauschten Rollen.«
    »Ein Herz und eine Krone? Wie?«
    »Der Film mit Audrey Hepburn und Gregory Peck. Jetzt sag bitte nicht, dass du den nicht kennst.«
    Roberto hatte ihn nie gesehen, aber er wusste ungefähr, wovon er handelte, und zog sich geschickt aus der Affäre. Natürlich habe er ihn gesehen, also wirklich, nur dass es lange her war und er sich kaum noch daran erinnerte.
    Während er diese Lüge erzählte, stellte er fest, dass er sich an kaum einen Film von den vielen, die er in seinem Leben gesehen hatte, erinnerte. Welcher Unterschied bestand eigentlich zwischen einem Film, den man nicht gesehen hatte, oder einem Ort, den man nicht besichtigt hatte, oder einem Buch, das man nicht gelesen hatte, und den Filmen, Orten und Büchern, die man zwar kannte, aber komplett vergessen hatte?
    »Und wenn wir schon dabei sind: Allgemein wird behauptet, dass ich Audrey Hepburn ähnlich sehe. Mir ist das nicht so wichtig, aber die Tatsache, dass du es noch nicht bemerkt hast, ärgert mich schon ein wenig.«
    Roberto sah sie an und fand nichts, was ihn an Audrey Hepburn erinnerte. Dann log er noch einmal und sagte, ja, sicher, wie konnte er das nur übersehen, die Ähnlichkeit sei wirklich groß.
    »Als ich jünger war, freute ich mich ungemein darüber. Ich hielt es für einen Wink des Schicksals, eine Vorbestimmung.«
    Emmas Worte hingen eine Weile über dem Brunnen und wurden dann vom Rauschen des Wassers verschluckt.
    »Wer ist jetzt bei deinem Sohn?«
    »Seine Großmutter, sie macht das sehr gern. Giacomo wäre eigentlich auch groß genug, um allein zu Hause zu bleiben, aber ich kann mich nicht damit abfinden, dass er so schnell wächst. In mancher Hinsicht ist er seinem Alter sogar voraus: die Bücher, die er liest, die Musik, die er hört, die Sachen, die er schreibt. Auch das, was er sagt. Die wenigen Male, die ich ihn zum Reden bringe.«
    »Was meinst du damit?«
    »Er ist sehr verschlossen und introvertiert. Es ist nicht leicht, an ihn heranzukommen.«
    Sie schien etwas hinzufügen zu wollen, hielt sich aber im letzten Moment zurück, als sei ein unerwarteter Gedanke dazwischengekommen. Sie machte eine ungeduldige Geste, bevor sie weitersprach.
    »Wie auch immer, meine Mutter hat sich jedenfalls gefreut, als ich sie bat, bei Giacomo zu bleiben. Ich gehe nämlich so gut wie nie abends aus, und sie macht sich deshalb Sorgen, sie will nicht, dass ich allein bin, ohne einen Freund oder Partner. Wahrscheinlich hört man nie auf, sich um die eigenen Kinder Sorgen zu machen. Manchmal belastet mich diese Vorstellung. Wir wollen sie vor allem schützen, aber das können wir nicht ein Leben lang tun.«
    Wir wollen sie schützen.
    Unsere Kinder.
    Schwarz vor Augen.
    Ruhe bewahren. Es ist alles unter Kontrolle. Ruhe bewahren.
    Hör ihrer Stimme zu. Konzentriere dich auf ihre Stimme und atme tief durch.
    Ruhe bewahren.
    »Giacomo ist gern mit seiner Großmutter zusammen, lieber als mit seinem Großvater. Meine Mutter ist noch jung, mein Vater ein ganzes Stück älter. Sie sind beide Ärzte, er ist schon pensioniert, und sie arbeitet noch. Er verkraftet das Älterwerden nicht gut. Er war ein schöner Mann – er ist es immer noch –, der nicht akzeptieren will, dass er älter wird. Er hat sie oft betrogen, und sie wusste es. Ich habe mich oft gefragt, warum sie bei ihm geblieben ist, und habe keine Antwort darauf gefunden. Vielmehr, ich habe eine Antwort gefunden, die mir jedoch nicht gefällt, deshalb will ich sie auch gar nicht in

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