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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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dem großen Speisesaal breitete sich erregtes Raunen aus.
    El Pelo lächelte zufrieden. Er war stolz auf seine Gastfreundlichkeit: Ein perfekter Hausherr weiß eben, was eine echte fiesta ist, und beschränkt sich nicht darauf, Wein, Essen und Spirituosen anzubieten. Mit königlicher Geste verkündete er, dass er zu Ehren seiner Gäste drei Jungfrauen gekauft hatte. Stoff, den bis zu diesem Abend noch keiner angefasst hatte. Seine Lieblingsware. Er beendete seine kurze Rede mit der Aufforderung an seine Gäste, sich zu bedienen – que aprovechen .
    Der mexikanische Federal-Police-Agent merkte, dass Gefahr im Verzug war: Roberto stand kurz davor, etwas zu sagen oder zu tun, was ihre ganze Unternehmung auffliegen lassen würde. Er flüsterte ihm ins Ohr, er solle keine Dummheiten machen. Sie könnten nichts tun. Gar nichts, sagte er. Lediglich auffliegen und umgelegt werden. Roberto schien ihn nicht zu hören. Sein Kollege packte seinen Arm so fest, dass seine Fingernägel sich Roberto ins Fleisch bohrten.
    »Mach keine Dummheiten«, wiederholte er. »Denk daran, dass wir sie bald festnehmen, diese Schweine. Und dann werden sie auch hierfür zahlen.«
    Die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, war abstoßend und grotesk. Behaarte Bäuche, schwitzende, verzerrte Gesichter, bestialische Grimassen. Die einen stürzten sich auf die Körper der Mädchen, die anderen sahen begeistert zu und masturbierten dazu.
    Nach einiger Zeit, als schon mehrere Gäste gegangen waren und es nicht mehr auffiel, verließen Roberto und der Agent der Federal Police den Raum und gingen in den Patio, wo sie sich Zigaretten ansteckten und schweigend rauchten.
    * * *
    Roberto fuhr sich heftig mit der Hand übers Gesicht, als wollte er etwas Klebriges, Hartnäckiges abstreifen. Das Gesicht des Doktors war reglos, fahl, die zusammengekniffenen Lippen bildeten eine Narbe.
    »Ich war bei der Vergewaltigung dabei, bei dem Massaker an drei Mädchen, und konnte nichts tun. Und wissen Sie, was das Schlimmste war?«
    »Was?«
    »Die Mädchen waren in gewisser Weise, wie soll ich es nennen, Komplizinnen. Es war keine brutale Vergewaltigung. Sie … sie machten mit , und was wirklich Angst machte, waren ihre lächelnden Gesichter und ihre Augen. Ich versuchte, nicht hinzusehen, aber mein Blick begegnete immer dem der Kleinsten. Nein, begegnen ist nicht das richtige Wort. Sie sah nichts, ihre Augen standen offen, aber es waren die einer Toten.«
    Er konnte nicht weitersprechen. Er dachte an all die Mordopfer, die er in seinem Leben gesehen hatte. Alle Mordopfer haben offene Augen. Offen vor Schreck oder vor Verwunderung oder beides. Den Toten schließt man die Augen, weil sie am schlimmsten zu ertragen sind: ins Nichts geöffnet, ausdruckslos.
    Die Erinnerung an jenen Abend in Mexiko war ohne Ton. Er konnte sich nicht an die Stimmen oder Schreie, an Gelächter oder Grunzen erinnern. Nur an eine grauenhafte Mechanik der Körper und eine Prozession deformierter Gesichter, wie in einer lautlosen Sequenz aus der Hölle.
    Die Stimme des Doktors unterbrach den Albtraum.
    »Erzählen Sie mir die zweite Episode.«
    Roberto schüttelte den Kopf wie jemand, der plötzlich aufwacht und ein paar Sekunden braucht, bevor er in die Wirklichkeit zurückfindet.
    »Gut. Ich war in Madrid und verhandelte wegen einer ziemlich großen Sache mit Kolumbianern, Spaniern und Italienern. Die Italiener waren nicht die üblichen Drogenhändler, keine Mafiosi der Sacra Corona Unita oder der Camorra. Es waren, wie soll ich sagen, ganz normale Jungs, die in das große Rauschgiftgeschäft eingestiegen waren. Das kommt nicht oft vor. Möglicherweise haben Sie sogar von der Sache gehört, denn als wir sie festnahmen, erregte das Ganze großes Aufsehen, weil es so ungewöhnlich war. Wie dem auch sei, ich war mit einem dieser Jungs in Madrid, wir hatten einen halben Tag frei, und er fragte mich, ob ich mitkäme, er wolle sich ein riesiges, berühmtes Bild von Picasso in einem Museum ansehen. Das Bild heißt Guernica – Sie kennen es bestimmt –, aber ich weiß nicht mehr, wie das Museum hieß.«
    »Das ist das Reina Sofia.«
    »Ja, genau, Reina Sofia. Roberto – er hieß wie ich – war schon mehrmals dort gewesen, um Guernica zu sehen; er tat das jedes Mal, wenn er in Madrid war. Er war ein sympathischer junger Mann mit vielen Interessen. Er wirkte eher wie ein Universitätsassistent oder ein Klassenprimus. Einer, der seine Arbeit als Erster fertig hat und dann noch alle abschreiben

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