In der Brandung
schlecht, von Zeit zu Zeit ein anderer zu sein, das gibt einem ein Gefühl von Freiheit. Ein Problem wird es erst dann, wenn man den Großteil seiner Zeit ein anderer ist. Wenn man ein anderer sein muss, um man selbst zu sein. Und wenn man sich fehl am Platz fühlt, sobald man kein anderer mehr ist. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine.«
»Sie hätten es nicht besser ausdrücken können.«
»Jedenfalls fühlte ich mich wohl in der Gesellschaft von Kriminellen. Um meine Aufgabe zu erfüllen, musste ich natürlich erreichen, dass sie mir vertrauten, aber das war mir nicht genug. Ich wollte, dass sie mich schätzten, ich wollte ihnen gefallen .«
»Können Sie mir das an einem Beispiel erklären?«
»Wenn ich erfuhr, dass mich einer der Bosse einen guten Jungen genannt hatte oder einen fähigen oder netten Kerl, der sich auskannte, freute ich mich. Viel mehr, als wenn meine Kollegen oder Vorgesetzten so etwas sagten. Bevor ich sie hinhängte, wollte ich sie verführen.«
»Wie lange ging das so?«
Roberto versuchte ein Lächeln, aber es geriet zur Grimasse.
»Stört es Sie, wenn ich mir eine Zigarre anstecke?«, fragte der Doktor.
»Überhaupt nicht. Darf ich dann eine Zigarette rauchen?«
»Aber meinen anderen Patienten erzählen wir nichts von dieser Sitzung außer der Reihe, abgemacht?«
Roberto hatte den deutlichen Verdacht, nein, die Sicherheit, dass der Doktor über ihn und Emma Bescheid wusste. Das war ein beruhigendes Gefühl, ein Signal, dass die Dinge sich in die richtige Richtung entwickelten.
Der Doktor machte eine Schublade auf – dieselbe, aus der er die Kekse genommen hatte – und entnahm ihr eine Kiste Toscani. Er nahm eine Zigarre, schnitt sie mit einem Taschenmesser in der Mitte durch, goss mehr Brandy in die Gläser und steckte die Zigarre an. Roberto zündete sich seine Zigarette an.
»Es gibt da noch etwas, was ich klarstellen möchte, bevor Sie weitererzählen.«
»Ja?«
»Wenn Sie jetzt Gelegenheit dazu hätten, würden Sie dann immer noch stehlen wollen? Wenn Sie jetzt die Gelegenheit hätten – gleiche Bedingungen, gleiche Straffreiheit –, würden Sie dann immer noch gegen die Regeln verstoßen wollen?«
Roberto richtete sich überrascht in seinem Sessel auf. Auf diese Frage war er nicht gefasst gewesen, und er hatte auch keine Antwort parat. Er musste erst ein paar Minuten überlegen.
»Ich glaube nicht. Ich kann nicht ganz sicher sein, aber ich glaube nicht.«
»Wann haben Sie gemerkt – wann haben Sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass es Ihnen keinen Spaß mehr machte?«
Roberto steckte sich noch eine Zigarette an, mit dem Stummel der ersten. Das hatte er schon lange nicht mehr gemacht.
»Das kann ich Ihnen nicht mit Sicherheit sagen, aber es gibt ein paar Vorfälle aus den letzten Jahren, die mir immer zusammen einfallen, sie hängen miteinander zusammen.«
»Dann können Sie es vielleicht doch mit Sicherheit sagen.«
»Vielleicht jetzt schon, weil Sie mich darauf gebracht haben.«
Nach einer langen Pause, in der er seine Gedanken und Erinnerungen ordnete, fügte er hinzu: »Doch, so ist es. Es gibt drei Episoden, bei denen ich hätte merken müssen, dass der Mechanismus nicht mehr funktionierte, dass das Räderwerk kaputtging und ich besser hätte aufhören sollen.«
»Dann erzählen Sie sie mir doch. Wenn es Ihnen recht ist, in chronologischer Reihenfolge, vom ersten bis zum letzten Vorfall.«
* * *
Es war in Mexiko, in einer Kleinstadt an der Grenze zu Arizona, und er arbeitete mit einem Agenten der Federal Police zusammen, der ebenfalls undercover agierte.
Sie waren in die Villa eines örtlichen Bosses eingeladen worden, man hatte gegessen und getrunken und die gemeinsamen Geschäfte besprochen. Jetzt rauchten und tranken sie noch etwas und erzählten sich mehr oder weniger wahre, mehr oder weniger erfundene Geschichten.
Der Hausherr war ein gewisser Miguel, genannt El Pelo. Er hatte eine Haartransplantation hinter sich, und diese Haare färbte er, wie auch sein Schamhaar. Er rühmte sich, nur mit Mädchen unter zwanzig ins Bett zu gehen, und behauptete, dass ihn das jung halte.
Irgendwann machte El Pelo einem seiner Leibwächter ein Zeichen, und der ging drei Mädchen holen. Sie waren fast noch Kinder, vor allem eine von ihnen. Sie waren stark geschminkt und angezogen wie Nutten, aber unter der Schminke und den Kleidern sah man deutlich, dass sie nicht älter als zwölf sein konnten. Die Kleinste war vielleicht sogar noch jünger. In
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