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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Narzissmus zu tun hat. Es kann gut sein, dass die Erklärung ganz einfach die ist, dass ihm das Studieren keinen Spaß machte oder dass es nicht das richtige Studium für ihn war. Wie dem auch sei, jetzt arbeitet er bei einer Finanzgesellschaft. Nicht genau das, was ich mir für ihn erträumt hatte. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht sehr viel Zeit darauf verwendet, eine Zukunft für ihn zu erträumen, und darin liegt das eigentliche Problem. Wir sehen uns nie, und ich weiß nichts von ihm. Nicht, was er denkt, was er gern mag, was er verabscheut – außer mir –, nicht, welche politischen Ideen er hat, ob er überhaupt welche hat. Ich weiß nicht, ob er Bücher liest – ich fürchte, nein –, ob er ins Kino geht, ob er Musik hört. Nicht einmal, ob er eine Freundin hat. Wir sprechen nur dann miteinander, wenn ich ihn anrufe, er selbst meldet sich nie. Und wenn ich ihn anrufe, ärgert ihn das. Ich frage ihn dann, wie es ihm geht, und er sagt, dass es ihm gut geht, wie immer, und aus reiner Höflichkeit fragt er mich dann, wie es mir geht, und ich sage, auch gut, und ich spüre seinen Widerwillen und dass er nur darauf wartet, auflegen zu können, und dabei würde ich ihn am liebsten fragen, ob er sich mit mir treffen will, sich mal richtig unterhalten, aber dazu fehlt mir dann der Mut, und deshalb enden unsere Telefongespräche jedes Mal auf dieselbe traurige, armselige Weise.«
    Er trank einen Schluck Brandy, dann noch einen und leerte schließlich das Glas.
    »Diese Unterhaltung dürfte natürlich gar nicht stattfinden. Als Sie an der Tür klingelten, hätte ich Ihnen nicht öffnen dürfen oder Ihnen höchstens sagen, dass wir uns bei der nächsten Sitzung sehen würden. Alles, nur nicht Sie dazu auffordern, ein Glas mit mir zu trinken und sich die Beichte eines gescheiterten Vaters anzuhören.«
    Sie blieben eine Weile so sitzen, ohne etwas zu sagen.
    »Ich denke auch oft an meinen Sohn«, sagte Roberto schließlich.
    Der Doktor sah ihn an.

22
    »Ich weiß nicht mehr, ob ich Ihnen je meinen Decknamen gesagt habe.«
    »Nein, wie ist er?«
    »Manguste.«
    »Ist das dieses Tier, das wie ein Frettchen aussieht und Kobras jagt?«
    »Ja, wir hatten fast alle Tiernamen. Wissen Sie, warum die Mangusten Kobras und andere Schlangen töten können?«
    »Ich glaube, dass sie sehr schnell sind und die Schlangen an der Gurgel packen können, bevor sie sie beißt.«
    »Das stimmt, aber manchmal kann die Kobra doch vorher zubeißen. Und der Manguste passiert nichts.«
    »Heißt das, dass sie gegen Schlangengift immun ist?«
    »Ja. Mangusten haben einen Abwehrmechanismus, der mit chemischen Rezeptoren zu tun hat und der dem der Schlangen gleicht. Das ist der Grund dafür, dass die Schlangen nicht an ihrem eigenen Gift sterben.«
    »Wer hat Ihnen diesen Decknamen gegeben?«
    »Ein Hauptmann von unserer Einheit. Aber er kannte die Geschichte mit dem Gift und der Resistenz gar nicht. Ich kannte sie selber nicht. Ich habe das erst Jahre später entdeckt, durch einen Zeitungsartikel. Als ich darüber las, nahm ich diese Information einfach nur zur Kenntnis. Viele Jahre später kam sie mir dann wieder in den Sinn, und ich kam zu dem Schluss, dass das Ganze eine Bedeutung haben musste. Die Manguste ist wie die Schlange: Sie kann mit dem Gift im Körper weiterleben.«
    Der Doktor schien etwas sagen zu wollen, ließ es dann aber sein.
    »Ich habe jahrelang mit Kriminellen zusammengelebt, und sie vertrauten mir, ja, sie bewunderten mich. Ich hingegen tat alles, um sie zu ruinieren, selbst wenn wir in der Zwischenzeit Freunde geworden waren. Und wissen Sie, warum ich bei dieser Arbeit so erfolgreich war?«
    »Sagen Sie es mir.«
    »Weil ich wie sie war. Ich stahl zum Beispiel gern. Als verdeckter Ermittler hat man so viel Geld zur Verfügung, wie es sich ein normaler Carabiniere nie träumen lassen würde. Man hat viele Möglichkeiten, um Geld abzuzweigen oder zu zweckentfremden. Das tat ich, und ich hatte keinerlei Schuldgefühle, im Gegenteil, es machte mir Spaß. Es machte mir richtig Spaß.«
    Roberto leerte sein Glas und fragte, ob er noch einen Schluck bekommen konnte.
    Der Doktor öffnete eine Schublade seines Schreibtischs, holte eine Packung Schokoladenkekse heraus und schob sie in die Mitte des Tischs.
    »Wir sollten eine Unterlage haben.«
    Sie aßen Schokoladenkekse und tranken noch mehr Brandy. Mehrere Minuten vergingen mit Schweigen.
    »Meine Arbeit bestand darin, ein anderer zu sein. Und es ist gar nicht so

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