In der Glut der Leidenschaft
tief ins Gesicht gezogen, hastete sie weiter. Ihre einzige Hoffnung war, Nickolas zu erreichen. Wahrscheinlich wartete er im Red Badger auf sie. Sie hatte gar keine andere Wahl, obwohl eine Frau, die schon auf der West Side auffiel, im East End noch viel mehr Aufmerksamkeit erregte.
Michaela tastete nach ihrem Messer und hielt die Hände und die Tasche unter dem Mantel verborgen. Die Sonne sank, und es wurde kühler. Bestimmt schaffte sie es nicht vor Einbruch der Dunkelheit zur Herberge. Als die Schritte hinter ihr lauter wurden, tauchte sie in eine schmale Gasse. Ein Mann folgte ihr doch ein Stich nach seinem Arm jagte ihn zurück auf die Straße Sie presste sich an die Mauer und überlegte angestrengt. Vermutlich war es am besten, sie verbrachte die Nacht in dem alten Stall. Soldaten marschierten an der schmalen Gasse vorbei Michaela wartete. Die Absätze ihrer zierlichen Schuhe versanken im Schlamm.
Ratten raschelten. Eine Katze fauchte laut und nahm die Verfolgung über Kisten hinweg auf. Mäuse liefen Michaela über die Füße. Sie unterdrückte einen Aufschrei und presste sich fester an die Mauer. Zur Zeit des Abendessens waren die Straßen weitgehend leer. Sie holte die Taschenuhr ihres Vaters hervor und hielt sie ins Licht. Zwei Stunden, dachte sie. Wenn sie sich bloß zwei Stunden lang verstecken konnte. Schon gingen durch die Straße Laternenanzünder auf Stelzen, um an die hohen Lampen heranzureichen. Das Geräusch der Kutschenräder war jetzt immer seltener zu hören.
Michaela hatte sich oft genug in den Straßen aufgehalten, um zu wissen, wann es dort am sichersten war.
Doch bisher war sie stets gut bewaffnet gewesen. Ungeduldig holte sie einen Taschenspiegel hervor und spähte um die Mauerkante. Schließlich wagte sie sich ins Freie und eilte zum Stall.
Duncan ging in der Bibliothek auf und ab. »Vielleicht sollten wir noch mehr Soldaten ins East End schicken.«
»Dorthin wagt sie sich nicht«, erwiderte Michaelas Onkel. »Dafür ist das Mädchen zu ängstlich, sage ich Euch. Sie kann kaum einen Korridor entlanggehen, ohne über ihre eigenen Füße zu stolpern, und Ihr denkt, sie würde auch nur eine Stunde in den Eingeweiden Londons überleben?«
Duncan blieb stehen. Der Brigadier wählte Süßigkeiten von einem Teller und steckte sie sieh in den Mund ohne auch nur
aufzublicken. »Wo versteckt sie sich dann Eurer Meinung nach seit zwei Tagen?«, wollte er wissen.
»Vielleicht in einer Kirche oder in dieser wohltätigen Einrichtung.« Der Brigadier winkte ab und schlürfte Tee.
Duncan hatte schon alle Kirchen und auch die Suppenküche überprüft. Er hatte unzählige Fragen gestellt und zusammen mit Cassandras Brüdern viel Geld in London verteilt, um irgendwelche Informationen zu erhalten.
Es gab keine. Michaela war verschwunden.
Er erreichte nichts, wenn er hier blieb.
»Sucht weiter nach meiner lieben Nichte, Captain«, sagte der Brigadier, doch in seiner Stimme schwang keine Zuneigung mit. »Ich erwarte Euren Bericht.«
»Ja, Sir, guten Tag, Sir.« Duncan salutierte und verließ die Bibliothek, zog an der Haustür die Handschuhe an und fragte sich, ob es überhaupt richtig war, Michaela in dieses Haus zurückzubringen.
Nickolas saß verzweifelt auf dem Bett. Michaela war schon einen Tag überfällig, und seine Kontaktleute in der ganzen Stadt fanden nicht die geringste Spur von ihr. Stundenlang hatte er selbst nach ihr an allen üblichen Treffpunkten gesucht. Die Schüsse auf Michaela und Lady Whitfield bestätigten, dass der Mörder des Priesters annahm, Michaela hätte ihn gesehen. Das bedeutete allerdings noch nicht, dass der Mörder in ihr auch den Schutzengel erkannt hatte. Trotzdem durften sie nicht mehr das geringste Risiko eingehen.
Nickolas stand auf und ging unruhig auf und ab. Bilder von Michaela - zerschlagen, blutig, hilflos - quälten ihn.
Wenn diese Unsicherheit noch lange andauerte, verlor er bestimmt den Verstand.
Kapitel 18
Ich versichere dir, dass ich alle Verstecke des Schutzengels überprüft habe.«
Rein lehnte am Kaminsims und starrte ins Feuer. Nickolas wich seinen Fragen aus. Rein verlor allmählich die Geduld. »Soll ich diese Person nun finden oder nicht?«
»Ich bin dir für deine Bemühungen dankbar, aber...«
»Ich habe mich noch gar nicht bemüht«, wehrte Rein ab. »Und wenn du nicht mit dieser ewigen Heimlichtuerei aufhörst und mir endlich den Schutzengel beschreibst, kehre ich auf mein Schiff
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