In der Hitze der Nacht
den charmanteren Äußerungen. Mit einem herzlichen Empfang bei Jessies Familie hatte er sowieso nicht gerechnet.
„Ich fahre morgen zurück“, sagte er, bemerkte Marilyns fragenden Blick und fügte hinzu: „Ich habe Jessie nur bei Ihnen abgesetzt.“
Marilyns Gesicht hellte sich auf. Sie sah ihrer Tochter noch ähnlicher, wenn sie lächelte, nur traten bei ihr die Wangenknochen deutlicher hervor. Rick fragte sich, ob Jessie in ungefähr dreißig Jahren auch so aussehen würde, und gleich darauf versetzte es ihm einen Stich, weil er wusste, dass er das nie erfahren würde.
Marilyn schob ihm den Teller mit den Sandwiches hin. „Essen Sie ruhig noch etwas. Es reist sich besser mit vollem Magen.“
Jessie gefiel das Verhalten ihrer Mutter überhaupt nicht.
„Ich werde mit ihm zusammen zurückfahren, wenn ich die unterschriebenen Scheidungspapiere hier finde“, kündigte sie an. „Hast du sie schon gesucht?“
Marilyn streichelte die Hand ihrer Tochter. „Wir sollten unsere Familienangelegenheiten nicht vor Fremden ausbreiten, Sugar.“
„Rick ist kein Fremder, Mom. Er ist …“ Sie hielt einen Moment inne. Ja, was war er eigentlich genau?
„Er ist ein Freund“, entschloss sie sich zu sagen. „Und er weiß alles über Wade und meine Scheidung.“ Sie warf ihr angebissenes Sandwich auf den Teller. „Ich muss diese Scheidungspapiere unbedingt finden.“
„Hier sind keine Papiere, Sugar, wir können später noch darüber reden“, erwiderte ihre Mutter beiläufig – offensichtlich in der Hoffnung, dass Rick es nicht mitbekam.
Er schaute zu Jessie und sah, dass ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
„Das kann doch nicht wahr sein!“, rief sie entsetzt.
„Jetzt ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für diese Angelegenheit.“
„Das ist genau der richtige Ort – und die richtige Zeit. Was meinst du damit, dass die Scheidungspapiere nicht da sind?“
Marilyn stand auf und trug ihren Pappteller zum Mülleimer. „Du hast überhaupt keine Manieren mehr, Sugar. So etwas bespricht man nicht vor jedem.“
„Rick ist nicht ‚jeder‘, Mom. Er hat mich den langen Weg nach Texas gefahren und hat das Recht, alles mit anzuhören. Was hast du nur? Bitte behaupte du jetzt nicht auch noch, dass Wade und ich noch verheiratet sind.“
Jessies Gesicht hatte wieder Farbe, weil sie offensichtlich sehr erregt war. Rick wischte sich mit der Serviette den Mund und sagte: „Ich lasse euch beide jetzt besser allein.“
„Nein, bleib hier“, protestierte Jessie und drehte sich zu ihrer Mutter um. „Du sagt mir jetzt, dass Wade und ich geschieden sind.“
Plötzlich herrschte Totenstille im Raum. Marilyn schaute erst Rick an, dann Jessie. Schließlich sagte sie: „Drei Tage nach dem Tod deiner Großmutter rief dein Anwalt hier an und teilte uns mit, dass Wade seine Meinung geändert habe, eine Scheidung nicht mehr wolle und die Papiere nicht unterschreiben würde. Der Anwalt hat uns gebeten, es dir schonend beizubringen, weil er wusste, wie sehr dich der Verlust von Grandma getroffen hat. Da wollte er nicht mit noch mehr schlechten Nachrichten kommen.“
Jessie schoss empor und riss den Stuhl dabei um. „Und wa rum hast du mich nicht informiert?“
„Sugar, du warst vor Kummer über den Tod von Großmutter ganz krank und außerdem total verzweifelt, weil Wade nicht der war, für den du ihn gehalten hast. Ich fand, du solltest in solch einer Situation keine Entscheidungen fällen müssen.“
„Also hast du entschieden, es mir zu verschweigen? Ein ganzes Jahr lang?“
„Tut mir leid, Sugar, aber in diesem Punkt bin ich mit Wade einer Meinung: Er fand, ihr brauchtet beide etwas Zeit zum Nachdenken. Und ein Jahr ist doch eine gute Zeit, oder?“ Sie erhob fast drohend den Zeigefinger. „Eine Ehe wirft man nicht einfach so weg. Ihr habt eine Menge zusammen durchgemacht, und du warst vor einem Jahr ziemlich durcheinander.“
Jessie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, was Rick nur allzu gut verstanden hätte. „Mom, Wade hat die Papiere nur aus Berechnung nicht unterschrieben! Er wusste, dass Grandma mir etwas vererben würde, und wollte die Hälfte davon! Das war der wahre Grund!“
„Niemand kannte zu diesem Zeitpunkt Grandmas Testament.“
„Aber Wade ist nicht blöd. Es war ein offenes Geheimnis, dass ich Grandmas Alleinerbin werden würde.“ Jessie setzte sich wieder hin und stützte ihr Kinn in beide Hände. „Ich kann nicht glauben, dass du mir so etwas
Weitere Kostenlose Bücher