In der Hitze der Stadt
»Herrgott noch mal.«
Regazzoni betrachtete die Runde und lächelte erstmals wieder. »Tja, meine Herren«, bemerkte er sichtlich stolz. »Ihre Vermutungen, Ihr Nichtwissen und Ihre Halbwahrheiten bringen uns nicht weiter. Daher kommt jetzt die Wissenschaft ins Spiel.«
Schneider kam vom Fenster weg. Wissenschaft interessierte ihn. Mediziner wäre er gerne geworden. Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Aber zwei Semester Medizin hatten ihm gereicht, denn bald darauf hätte er Leichen sezieren müssen. Jura war doch mehr für ihn geeignet. Immerhin hatte er im Jahr seines Medizinstudiums seine Lotte kennengelernt. Auch sie hatte Medizin studieren wollen – glaubte, das sei sie ihren Eltern schuldig. Als er Lotte küsste, hatte er den goldenen Löffel gespürt, den sie im Mund trug.
Der Rest war Formsache.
Daniel Schneider wandte sich an den Dr. med. aus dem Tessin. »Haben Sie etwas gefunden?«
Regazzoni zupfte sich die Hemdstöße aus den Ärmeln seines Anzuges. Er lächelte wieder.
Baumer schaute immer noch wie in Verzückung in Richtung Decke. Irgendetwas ging ihm im Kopf umher.
»Also«, begann Dr. med. Regazzoni zu dozieren, und Schneider und Heinzmann setzten sich ganz automatisch in die erste Reihe, um besser zuhören zu können.
»Wir sind uns alle einig, dass es einen Verdächtigen gibt, nicht wahr«, begann der Gerichtsmediziner seinen Bericht.
Keiner sagte ein Wort, alle lauschten sie dem »Professor«.
»Der Verdächtige hat sich nicht selbst belastet.« Er blickte seine Zuhörer an. »Sie nicken. Ich sehe, Sie sind einverstanden.«
Weder Schneider, noch Heinzmann unterbrachen Regazzoni in seinen Erklärungen. Das tut man nicht, wenn ein Professor doziert. Fragen kann man nach der Vorlesung stellen – vielleicht.
»Die Befragungen der Leute, die Mina in ihrem Blute liegend gefunden haben«, fuhr Regazzoni fort, »haben auch keinen klaren Hinweis auf einen bestimmten Verdächtigen ergeben. Niemand hat den Mord direkt beobachtet.« Er machte eine Pause, senkte die Stimme. »Weitere Zeugen haben sich nicht gemeldet.«
»Wie haben Sie das in Erfahrung gebracht?«, unterbrach ihn der schwitzende Schneider reflexartig. Warum wusste der Mediziner bereits vom neuesten Stand der Dinge und er nicht.
Prompt erntete Schneider einen bösen Seitenblick von Regazzoni ob der Unterbrechung. »Warum ich das weiß? Weil ich eben noch bei Lachenmeier angerufen habe, um mich zu informieren.«
Der Chef der Kriminalpolizei Basel rückte in seinem Stuhl nach vorne, drehte den Kopf wild in alle Richtung. »Warum werde ich nicht davon in Kenntnis gesetzt? Warum kommt Lachenmeier nicht hierher und berichtet ohne Zeitverzug?«
Heinzmann schaute nun auch in Richtung Decke. »Weil fünf Uhr ist«, erklärte der Wachtmeister. »Da geht Lachenmeier immer nach Hause. Punkt sechs gibt’s Abendessen.«
Schneider brummelte irgendetwas von Dienstpflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein, Leistungsbereitschaft, alle am selben Strick ziehen.
Regazzoni stoppte das Gebrabbel von Schneider, indem er die Luft vor seinem Bauch mit seiner flachen Hand durchschnitt. »Also, meine Herren«, fuhr er in seinem Sermon fort. »Wir haben keine Augenzeugen.«
»Mich haben niemand gesehen«, wiederholte Azoglu zum ungezählten Male seine Aussage. Das verächtliche Lächeln bekam er nicht mehr aus dem Gesicht.
»Nein, Herr Azoglu. Niemand hat Sie gesehen«, drehte sich der Tessiner zum Türken. »Wieso hätte Sie auch jemand sehen sollen? Sie würden Ihr Kind doch nicht töten, nicht wahr?«
»Nein, ich nicht umgebracht.«
»Warum sollten Sie auch? Kein liebender Vater bringt sein eigenes Kind um? Das macht doch keiner, nicht?«
Azoglus Lächeln wurde noch arroganter, noch zynischer. Seine hasserfüllten Augen stachen auf Regazzoni ein.
»Tja, Herr Azagoglu«, schaute Regazzoni den Türken an und wollte fortfahren.
»Azoglu«, sagte Baumer.
Regazzoni ignorierte den Hinweis dezent, ungerührt nahm er den Faden wieder auf, während er seine Hände in die Seiten stemmte. »In der Tat. Herr Azoglu bringt sein eigenes Kind nicht um. Das schließt ihn doch als Täter aus, nicht?«
Schneider sprang auf. »Verdammt. Wer war es dann?«
Regazzoni schüttelte milde den Kopf. Ach, diese naiven Studenten. Kommen die denn nie von selbst drauf, was geschehen ist? Es ist doch so einfach. Das merkt doch jeder.
Jeder merkt das.
*
Danner war in Eile. Er wollte so schnell als möglich zu Tanja, der serbischen Freundin von Mina,
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