In der Mitte des Lebens
zu sein ist eine Möglichkeit, in der technologisierten Gesellschaft Nähe zur Natur zu erfahren und tut einfach gut. Vielleicht hängt auch der Wunsch damit zusammen, eine kleine heile Welt zu schaffen mitten in einer großen Welt, von der wir wissen, dass sie ökologisch immer mehr zerstört wird. Regenwälder werden abgeholzt, das Eis der Pole schmilzt, Dürre breitet sich aus – da ist der eigene Garten ein Stück Gegenrealität. Ich denke, der Garten ist ein Ort tiefer Sehnsucht …
Tatsächlich ist die Schrebergartenbewegung neu auf dem Vormarsch. Junge Familien etwa bewerben sich um ein Grundstück,weil sie nach freier Bewegung für die Kinder suchen. Interkulturelle Gärten entstehen, spannende Projekte, bei denen Menschen verschiedener Herkunft und Kulturen ihre Visionen von Garten zusammenbringen und – so habe ich es bei mehreren Besuchen erlebt – im Miteinander im Garten zueinanderfinden. In Deutschland gibt es heute mehr als eine Million solcher Kleingärten mit einer Fläche von mehr als 46000 Hektar. Warum suchen Menschen Gärten, warum engagieren sie sich derart intensiv für Rasenschnitt und Hecke, für Blumen und eigenen Kohlrabi? Ist das nur eng oder ist das vielleicht sogar besonders weit?
Der Wunsch nach heiler Welt, die Frage nach der Sehnsucht nach dem Paradies hat vor allem die Tiefenpsychologie beschäftigt. Dabei hat sie immer wieder auf die biblische Paradieserzählung zurückgegriffen. Das Wort »Paradies« stammt ursprünglich aus dem Persischen und bedeutet »Einzäunung, Enge, Umgrenzung«. Unser persönliches Paradies, das wir alle erlebt haben, die wohlige Enge, die uns zum Lebensanfang umgab, war der Uterus der Mutter mit völliger Geborgenheit, Schutz vor Gefahren, optimaler Versorgung, ohne Entbehrungen und Einsamkeit, der stete Herzschlag der Mutter war das Signal, dass das Leben unaufhörlich weitergeht. Wir mussten nichts tun, nicht aktiv werden, hatten alles, was wir brauchten, ohne jede Anstrengung. Ein Leben ohne Sorgen. Die einzige Veränderung war unser Wachstum – und Wachstum führt offenbar zur Vertreibung aus dem Paradies. Die Geburt trennt uns von diesem Wonne-Garten und bringt uns in eine Welt voller unangenehmer Empfindungen und Entbehrungen. Geblieben ist aus dieser frühen Erfahrung die Sehnsucht nach einem konfliktlosen, harmonischen Dasein, nach einer heilen Welt.
Auch im großen gesellschaftlichen Zusammenhang gibt es diese Sehnsucht: Wissenschaft, Forschung und Technik sind auch Mittel zur Verwirklichung eines Paradieses, zeigen, dass der Mensch Allmachtsfantasien und Kräfte einsetzt, um sich das Paradies zurückzuerobern und um letztlich vielleicht den Gott zu überlisten, der ihn fernhält von dieser Erfüllung. Fatalerweisesteuern wir dabei allerdings in die entgegengesetzte Richtung: Je mehr wir uns unsere individuellen Paradiese zu schaffen versuchen, desto mehr geht das uns umgebende »natürliche« Paradies unserer Umwelt verloren.
Und doch haben die kleinen Paradiese große Wirkung. Die Bischofskanzlei, über der ich auch wohne, hat einen wunderbaren Garten. Er ist nicht riesig, aber er ist ein Garten mitten in der Stadt. Ringsum ist nicht viel zu tun, die Büsche und Bäume sind alt und umgeben ihn mit erhabener Ruhe. In der Mitte liegt eine Rasenfläche, die schnell gemäht ist, nur ab und an entmoost werden muss. Und es gibt zwei Beete, die ich mit Liebe »bebaue«. Ein kleines Beet, auf das ich direkt von meinem Schreibtisch aus schaue, blüht das ganze Jahr. Es beginnt mit Schneeglöckchen, später kommen kleine buschige Osterglocken, die ich sehr mag, und Hyazinthen in Rosa und Blau. Dann blühen die Hortensie und vor allem eine weiße Rose mit Blüten von Mai bis Oktober. Im Juni pflanze ich oft Sonnenblumenkerne, die dann zu einer wunderbaren Pracht im September führen. In einem Jahr habe ich das vergessen, ich habe mein Beet sozusagen nicht »bewässert«, und es hat mir etwas gefehlt im Herbst.
Und dann gibt es mitten im Garten ein Rosenbeet. Einst war es ein Teich, wurde dann zum Beet, und da ich Rosen so liebe, haben meine Mitarbeiterinnen
in der Kanzlei, das Kolleg des Landeskirchenamtes und der Bischofsrat mir zum 50. Geburtstag dort als Geschenk ein Rosenbeet anpflanzen lassen. Etliche
Geburtstagsgäste brachten Rosenstöcke mit. Ich muss zugeben, ich dachte zuerst auch: O nein, noch mehr Arbeit! Aber ich liebe dieses Beet inzwischen
sehr. Die Rosen erinnern mich an die Menschen, die sie geschenkt haben. Das Betrachten der
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