In der Mitte des Lebens
Johannes 5,7.
45 1. Mose/Genesis 12,1.
46 Luise Rinser, a. a. O., S. 154f.
Neuland betreten
Es kann passieren, dass wir in der Mitte des Lebens einfach an uns selbst vorbeilaufen. Dann ignorieren wir, wo wir stehen, und machen
einfach täglich weiter, und es folgt Trott auf Trott. Aber das Leben ändert sich, und um seinen Herausforderungen zu begegnen, ist eine innere Balance
notwendig, eine Übereinstimmung von Innen und Außen, braucht es Gelassenheit und Ruhe, ohne die wir nicht die Kraft haben, unser Leben bewusst zu
gestalten. Das kann von Mensch zu Mensch sehr verschieden aussehen, aber es bedarf eines Innehaltens. Immer wieder einmal ist sozusagen ein Stoppschild
nötig, das signalisiert: Halt mal an und schau, wer du bist und wo du stehst. Und dann betritt mutig neues Land.
Gelassenheit einüben
Der Herr ist mein Licht und mein Heil, wen sollte ich fürchten!
Der Herr ist der Hort meines Lebens, vor wem sollte mir bangen! 47
Was habe ich früher gekämpft! Ich wollte nicht weniger als die Welt verändern, verbessern, gegen Hunger und Unrecht antreten. Damals
haben mich manche belächelt, naiv sei das, von wegen »Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung« – das sei doch weltfremd … Manchmal schaue ich
zurück und denke: War ich wirklich naiv? Oder bin ich jetzt abgestumpft? Habe ich mich zu sehr eingefunden in das, was »Realität«genannt wird und fange ich auch schon an, junge »Weltverbesserer« zu belächeln?
Nein, das möchte ich nicht. Und wer heute 20 Jahre zurückschaut, sieht sehr wohl, wie die Vorstellung von einer gerechteren, friedlicheren Welt im
Einklang mit der Schöpfung, wie Kerzen und Gebete in der DDR zur friedlichen Revolution geführt haben. Die Welt wurde verändert! Da gab es Hoffnungen, die
sich Bahn brachen, da gab es in Ostdeutschland einen ungeheuren Mut, der eine Mauer zum Fallen brachte.
Aber mit 50 ist schon auch klarer geworden: Es geht in der Regel nicht so schnell, du musst deine Ungeduld zähmen. Die Welt ist groß, aber ich will
nicht resignieren – Klimawandel, Weltarmut, Unterdrückung von Frauen, das sind Themen, die mich weiterhin bewegen. Aber mir ist viel bewusster, wie klein
die Schritte sind, die wir als Einzelne oft nur gehen können. Mir ist bewusst: Es gibt Grenzen meiner Möglichkeiten. Und was Menschen betrifft: Wie oft
habe ich gemeint, sie aus ihrer schwierigen Situation »befreien« zu müssen. Ich erinnere mich an eine junge Mutter, die ich im Vikariat kennenlernte. Was
habe ich nicht alles unternommen, damit sie eine bessere Wohnung, einen Arbeitsplatz, einen Kitaplatz für die Kinder bekommen hat. Aber sie wollte das
alles gar nicht. Ich musste begreifen, dass es meine Ideale, meine Maßstäbe waren, von denen ich glaubte, dass sie sie auch haben müsste. Aber es war
definitiv nicht ihre eigene Vorstellung vom Leben … Solche Erfahrungen machen behutsamer und auch demütiger, finde ich.
Das heißt nicht, dass es nicht gut und richtig und wichtig ist, Ziele und Visionen zu haben, den eigenen Weg zu gehen. Die Geschichte von Ruth und
Noomi aus der Bibel ist ein schönes Beispiel dafür. Nachdem sie verwitwet ist und auch beide Söhne verloren hat, stellt Noomi sehr realistisch fest: »Ich
bin nun zu alt, um wieder einen Mann zu nehmen« (Ruth 1,12). Da in dieser Zeit Frauen aber auf einen männlichen Versorger angewiesen sind, muss die
jüngere Ruth jemanden finden – und in dem entferntenVerwandten Boas stellt sich eine Perspektive für beide ein: Noomi wird im Haushalt
von Boas und Ruth mitversorgt werden. Eine tiefe Solidarität ist da zwischen der jüngeren und der älteren Frau; solche Solidarität stelle ich auch heute
fest, zwischen Müttern und Töchtern, älteren und jüngeren Frauen – das ist eine bemerkenswerte positive Veränderung der letzten Jahre. Vor wenigen
Jahrzehnten wurde eher noch die ständige Auseinandersetzung, das große Drama zwischen Müttern und Töchtern gesehen; heute wird mit einem gewissen
Erstaunen wahrgenommen, dass Mütter und Töchter meist eine gute und nahe Beziehung zueinander pflegen. Die meisten Töchter lieben ihre Mütter, vertrauen
ihnen, sehen sie als zentrale Gesprächspartnerin und oft als Vorbild. Das ist eine schöne Entwicklung, finde ich.
Ob das auch damit zusammenhängt, dass die Müttergeneration heute gelassener ist? Ich glaube, da ist weniger Neid auf die Töchter – Mütter haben ein
eigenständiges Leben. Viele sind
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