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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Alarmbereitschaft, sein Blick hellwach. Joe wich ihm nicht von der Seite. Zusammen hievten sie eine der Munitionskisten an ihren Hanfseilgriffen hoch und schleppten sie hinein. Auf dem Weg von der Laderampe zum Lager sah man durch eine Reihe von Fenstern in den nächsten Korridor und die angrenzenden Büros. Dion hatte die Amtsstuben mit den hellhäutigeren Kubanern besetzt, die allesamt mit dem Rücken zu den Fenstern saßen, irgendwelchen Unfug auf den vor ihnen stehenden Underwood-Schreibmaschinen tippten oder sich, den Finger auf der Gabel, Telefonhörer ans Ohr hielten. Bei ihrem zweiten Marsch durch den Korridor fiel Joe trotzdem auf, dass ausschließlich dunkle Schöpfe zu sehen waren – weit und breit niemand, der blond oder rothaarig gewesen wäre.
    Craddick ließ den Blick die Fenster entlangschweifen; bis jetzt hatte er Gott sei Dank nichts davon spitzgekriegt, dass ebenjener Korridor unlängst Schauplatz eines bewaffneten Überfalls gewesen war, bei dem ein Mensch sein Leben verloren hatte.
    »Wo haben Sie in Übersee gedient?«, fragte Joe.
    Craddick behielt die Fenster im Auge. »Woher wollen Sie wissen, dass ich im Ausland gekämpft habe?«
    Du liebe Güte, dachte Joe. Über kurz oder lang würde er die Einschüsse entdecken, die die Kugeln der verdammten Kubaner in den Wänden hinterlassen hatten. »Sie sehen aus wie ein Mann, der einiges erlebt hat.«
    Craddick sah kurz zu Joe herüber. »Sie haben einen Blick dafür, ob jemand im Krieg war?«
    »Zumindest heute«, erwiderte Joe. »Und Ihnen sehe ich’s jedenfalls an.«
    »Das Latino-Mädchen, das uns vorhin über den Weg gelaufen ist«, sagte Craddick, »hätte ich um ein Haar abgeknallt.«
    »Im Ernst?«
    Er nickte. »Das waren Latinos, die versucht haben, uns letzte Nacht in die Luft zu sprengen. Meine Jungs wissen es noch nicht, aber irgendeine spanische Organisation hat einen Anschlag auf unsere gesamte Truppe angekündigt.«
    »Bis zu uns ist das noch nicht durchgedrungen.«
    »Weil wir es nicht an die große Glocke gehängt haben«, erwiderte Craddick. »Wie auch immer, jedenfalls steht da plötzlich diese Latino-Braut vor uns, mitten auf dem Highway 41. Tja, und wissen Sie, was ich in dem Moment gedacht habe? Ich habe gedacht: Walter, verpass ihr ’ne Kugel, direkt zwischen die Titten.«
    Abermals betraten sie das Lager und hievten die Kiste auf den Stapel zu ihrer Linken. Craddick kramte ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn, während die Matrosen die restlichen Kisten hereinschleppten.
    »Und ich hätte es auch getan, wenn sie nicht die Augen meiner Tochter gehabt hätte.«
    »Wer?«
    »Das Latino-Mädchen. Ich habe eine Tochter in der Dominikanischen Republik. Gesehen habe ich sie noch nie, aber ihre Mama schickt mir manchmal Fotos von ihr. Sie hat ganz große dunkle Augen, wie so viele Mädchen aus der Karibik. Nun ja, diese Latina hatte genau dieselben Augen, und deshalb habe ich meine Waffe wieder weggesteckt.«
    »Sie hatten den Colt bereits gezogen?«
    »So gut wie.« Er nickte. »Im Prinzip war die Sache schon gegessen. Warum ein unnötiges Risiko eingehen? Mehr als eine Gardinenpredigt hätte ich mir wohl kaum eingefangen, wenn ich die Schlampe erschossen hätte. Aber…« Er zuckte mit den Schultern. »Tja, die Augen meiner Tochter.«
    Joe schwieg. Das Blut rauschte in seinen Ohren.
    »Also habe ich es einem meiner Jungs überlassen.«
    »Was?«
    Craddick nickte. »Cyrus heißt er. Der Bursche ist heiß auf Krieg, aber es besteht gerade kein Bedarf für harte Kerle. Wie auch immer, als die Kleine den Blick in seinen Augen gesehen hat, ist sie abgehauen. Aber Cyrus ist nahe der Grenze zu Alabama aufgewachsen, hat dort alles Mögliche in den Sümpfen gejagt. Der findet sie in null Komma nichts.«
    »Und wo wollen Sie das Mädchen hinbringen?«
    »Nirgendwohin. Die verdammten Latinos haben es auf uns abgesehen. Cyrus wird sich die Kleine vorknöpfen, und den Rest besorgen die Reptilien.« Er steckte sich einen Zigarrenstumpen in den Mundwinkel, riss ein Streichholz an seinem Stiefelabsatz an und warf Joe einen Blick über die Flamme zu. »Aber Sie hatten recht – ich habe eine ganze Reihe von Einsätzen hinter mir. Ich habe einen Dominikaner im Kampf getötet, und Haitianer gleich dutzendweise, Tatsache. Und vor ein paar Jahren habe ich in Panama mal drei Kerle gleichzeitig mit einer Salve aus meiner Thompson erledigt – ging natürlich nur, weil wir die Burschen vorher aneinandergefesselt hatten.« Er paffte an

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