Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
Vom Netzwerk:
Dreschflegel, während er wieder auf Joe zuwalzte, und Joe zögerte keine Sekunde. Er rammte den Gewehrkolben geradewegs durch das Faustgewitter in das Gesicht des Ungeheuers – und einen Sekundenbruchteil später hörte er, wie Nase und Jochbein des Riesen brachen. Als der Hüne zu Boden ging, ließ er das Gewehr fallen, zog ein Paar Handschellen aus der Tasche, und dann war Dion auch schon an seiner Seite. Gemeinsam fesselten sie dem schnaufenden Riesen die Hände auf den Rücken, während sich eine Blutlache um seinen Kopf bildete.
    »Halten Sie durch?«, stieß Joe hervor.
    »Ich mach dich alle, du Arschloch!«
    »Klingt vielversprechend.« Joe wandte sich an die drei schießwütigen Kubaner. »Holt noch jemanden, und dann schafft den Kerl in die nächste Zelle.«
    Er trat zu dem Mann, der getroffen worden war. Zusammengekrümmt lag er auf dem Boden und röchelte. Es klang nicht gut, und es stand auch nicht gut um ihn – sein Gesicht war aschfahl, und er blutete heftig aus einer Wunde in der Magengegend. Joe kniete neben ihm nieder, doch in derselben Sekunde starb er. Seine Augen verrutschten, und sein Blick wirkte, als versuche er, sich an den Geburtstag seiner Frau zu erinnern, vielleicht auch daran, wo er seine Brieftasche gelassen hatte. Er lag auf der Seite; der eine Arm war unter ihm eingeklemmt, der andere hing schlaff über seinem Kopf. Sein Hemd war bis zu den Rippen hochgerutscht und gab den Blick auf seinen Bauch frei.
    Die drei Männer, die ihn getötet hatten, bekreuzigten sich, während sie den Riesen an Joe und der Leiche vorbeischleiften.
    Joe schloss dem toten Kubaner die Augen; mit einem Mal sah er blutjung aus. Er war vielleicht zwanzig, vielleicht aber auch erst sechzehn gewesen. Joe drehte ihn auf den Rücken und kreuzte seine Arme über der Brust. Unterhalb seiner Hände, gleich unter der kleinen Wölbung, wo seine untersten Rippen zusammenstießen, quoll Blut aus einem Loch, das etwa so groß wie ein Zehncentstück war.
    Dion und seine Männer befahlen den Nationalgardisten, sich an der Wand aufzureihen und bis auf die Unterwäsche auszuziehen.
    Der tote Junge trug einen Ehering. Aus Blech, wenn Joe sich nicht täuschte. Wahrscheinlich trug er auch ein Foto seiner Frau bei sich, aber Joe hatte nicht vor, danach zu suchen.
    Außerdem fehlte einer seiner Schuhe. Er musste ihn während der Schießerei verloren haben, doch Joe konnte ihn nirgendwo entdecken. Während die Nationalgardisten in ihrer Unterwäsche an ihm vorbeimarschierten, warf Joe einen Blick in den angrenzenden Korridor, doch auch dort fand er ihn nicht.
    Fehlanzeige. Vielleicht lag er ja unter dem Jungen. Einen Moment lang überlegte Joe, ob er die Leiche noch einmal umdrehen sollte – irgendwie kam es ihm wichtig vor –, doch er musste zurück zum Tor und vorher noch die Uniform wechseln.
    Es kam ihm vor, als würden die gelangweilten, gleichgültigen Blicke der Götter auf ihm lasten, als er das Hemd des Jungen über dessen Bauch zog und ihn dort liegen ließ, ohne seinen Schuh, in seinem eigenen Blut.
    Nur fünf Minuten später traf der Lastwagen mit den Waffen vor dem Tor ein. Der Fahrer war nicht viel älter als der Junge, der soeben vor Joes Augen gestorben war, doch auf dem Beifahrersitz saß ein Obermaat mit sonnengegerbtem Gesicht. Er war etwa Mitte dreißig; an seinem Gürtel hing ein 45er Colt mit sichtlich abgenutztem Griff. Ein Blick in seine fahlen Augen, und Joe wusste, dass die drei schießwütigen Kubaner nicht mal den Hauch einer Chance gegen diesen Mann gehabt hätten.
    Sie wiesen sich als Gefreiter Orwitt Pluff und Obermaat Walter Craddick aus. Joe gab ihnen die Ausweise zusammen mit dem Marschbefehl zurück.
    Craddick reckte das Kinn und ließ Joes Hand in der Luft hängen. »Der Marschbefehl verbleibt bei Ihren Akten.«
    »Ja, klar.« Joe ließ die Hand wieder sinken und grinste entschuldigend, ohne sich allzu viel Mühe zu geben. »Hab letzte Nacht in Ybor ein bisschen zu tief ins Glas geschaut. Sie wissen ja, wie das ist.«
    »Weiß ich nicht.« Craddick schüttelte den Kopf. »Ich trinke keinen Alkohol. Das ist gegen das Gesetz.« Er warf einen Blick durch die Windschutzscheibe. »Ist das die Rampe, an der wir ausladen sollen?«
    »Ja«, sagte Joe. »Wenn Sie wollen, übernehmen wir das für Sie.«
    Craddick warf einen Blick auf die Rangabzeichen an Joes Schulter. »Unser Befehl lautet, die Waffen zu übergeben und für ihre sichere Verwahrung zu sorgen, Korporal. Wir sind dabei, bis die letzte

Weitere Kostenlose Bücher