In der Nacht (German Edition)
belügen sie nach Strich und Faden. Sie haben ihr erzählt, er würde sich in den Bergen verstecken, weil er sowohl von einer Bande von chacales aus dem Nieves-Morejón-Gefängnis als auch von Machados Schergen gejagt wird – und dass sie nicht nach Kuba kommen dürfe, weil sie ihn damit in tödliche Gefahr bringen würde. Wie auch immer, tatsächlich ist niemand hinter ihm her außer den Leuten, denen er Geld schuldet. Aber Graciela will davon nichts hören. Wenn es um Adan geht, schaltet sie komplett auf Durchzug.«
»Warum? Sie ist doch eine intelligente Frau.«
Esteban warf Joe einen kurzen Blick zu und zuckte mit den Schultern. »Wir alle klammern uns an Lügen, die uns lieber als die Wahrheit sind. Graciela macht da keine Ausnahme. Ihre Lebenslüge ist eben nur ein bisschen größer.«
Um ein Haar hätten sie die Abzweigung verpasst, doch Joe nahm sie gerade noch aus dem Augenwinkel wahr. Als Esteban bremste, schlitterten sie erst noch zwanzig Meter weiter. Er setzte zurück und bog ab.
»Wie viele Menschen haben Sie getötet?«, fragte Esteban.
»Keinen«, erwiderte Joe.
»Aber Sie sind ein Gangster.«
Joe sah keinen Sinn darin, ihm den Unterschied zwischen Gangster und Gesetzlosem zu erläutern, einfach weil er sich nicht mehr sicher war, ob tatsächlich noch ein Unterschied bestand. »Nicht alle Gangster bringen Leute um.«
»Aber Sie müssen dazu bereit sein.«
Joe nickte. »Genau wie Sie.«
»Ich bin Geschäftsmann. Ich richte mich nach Angebot und Nachfrage. Ich würde niemanden umbringen.«
»Sie bewaffnen kubanische Revolutionäre.«
»Dabei geht es um ein höheres Ziel.«
»Für das Menschen sterben werden.«
»Trotzdem besteht ein Unterschied«, sagte Esteban. »Ich töte für etwas.«
»Für was denn?«, erwiderte Joe. »Doch nicht etwa für ein beschissenes Ideal?«
»Sie haben’s erfasst.«
»Und was ist das für ein Ideal, Esteban?«
»Dass niemand das Recht hat, über das Leben eines anderen zu bestimmen.«
»Komisch«, sagte Joe. »Gesetzlose töten aus demselben Grund.«
Weit und breit war nichts von ihr zu sehen.
Sie fuhren aus dem Kiefernwald heraus und näherten sich dem Highway 41, doch von Graciela fand sich keine Spur, ebenso wenig wie von dem Matrosen, den Craddick ihr auf den Hals gehetzt hatte. Die Sonne brannte auf den verlassenen, weiß schimmernden Highway.
Sie folgten der Straße für eine halbe Meile und wechselten dann wieder auf den Schotterweg, ehe sie nach einer weiteren halben Meile wieder umkehrten – und Joe plötzlich etwas hörte, das wie eine Krähe oder ein Falke klang.
»Stell den Motor ab!«
Gemeinsam reckten sie den Hals, ließen den Blick über die Straße, die Kiefern, den Zypressensumpf und den grellweißen Himmel schweifen.
Nichts. Nichts als das Summen der Libellen, das hier wohl nie aufhörte, wie Joe dachte – ob morgens, mittags, abends oder nachts, stets kam man sich vor, als würde man das Ohr an die Schienen pressen, nachdem gerade ein Zug vorbeigerattert war.
Esteban ließ sich wieder in seinen Sitz zurücksinken, doch Joe hielt inne. Er meinte, östlich von ihnen eine Bewegung gesehen zu haben, in der Richtung, aus der sie gekommen waren…
»Da drüben.« Er streckte die Hand aus, und im selben Augenblick rannte Graciela zwischen ein paar Kiefern hervor. Sie lief nicht in ihre Richtung – schlauerweise, da sie sonst über fünfzig Meter ohne Deckung hätte zurücklegen müssen.
Esteban zündete den Motor, donnerte die Böschung hinunter, durch einen Graben und wieder aufwärts. Joe hielt sich am Rahmen der Windschutzscheibe fest, und im selben Augenblick drangen Schüsse an seine Ohren – ein trockener Knall, gefolgt von zwei weiteren, selbst hier draußen seltsam gedämpft klingenden Schüssen. Den Schützen konnte er aus seiner Perspektive nicht sehen, wohl aber den Sumpf – und genau dahin war sie unterwegs. Er stupste Esteban mit dem Knie an und bedeutete ihm, sich etwas weiter links zu halten.
Als Esteban das Lenkrad herumzog, erhaschte Joe einen Blick auf eine dunkelblaue Uniform und den Kopf des Mannes, ehe es abermals dumpf krachte. Im selben Moment sah er, wie Graciela stürzte – ob sie gestolpert oder getroffen worden war, ließ sich nicht sagen. Allmählich wurde der Boden immer schlammiger; der Schütze befand sich rechts von ihnen. Esteban ging vom Gas, und Joe sprang aus dem Wagen.
Es war, als würde er den Mond betreten – nun ja, vorausgesetzt, dass der Mond grün gewesen wäre. Die Zypressen
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