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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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erhoben sich wie überdimensionale Eier aus dem milchig grünen Wasser, und prähistorische Banyanbäume mit einem Dutzend oder noch mehr Stämmen wirkten wie stumme Palastwächter. Esteban hielt sich zu seiner Rechten, als Joe sah, wie Graciela zwischen zwei Bäumen hindurchrannte. Irgendetwas unangenehm Schweres kroch über seine Füße, als abermals ein Schuss knallte, diesmal aus unmittelbarer Nähe. Die Kugel riss ein Stück Borke von der Zypresse, hinter der sich Graciela versteckte.
    Der junge Matrose trat hinter einem knapp fünf Meter entfernten Baum hervor. Er war etwa so groß wie Joe und ähnlich gebaut, hatte rotes Haar und ein hartes, hageres Gesicht. Der Kolben seiner Springfield lag an seiner Schulter; den Lauf auf die Zypresse gerichtet, spähte er über das Korn. Joe zog seine 32er Automatik, atmete tief aus und schoss. Im ersten Moment glaubte Joe, nur das Gewehr getroffen zu haben, da es in hohem Bogen durch die Luft segelte. Doch dann fiel es in das teefarbene Wasser, und der junge Bursche fiel hinterdrein; Blut spritzte unter seiner linken Achselhöhle hervor und verdunkelte das Wasser, als er mit einem Platschen darin landete.
    »Graciela!«, rief Joe. »Alles in Ordnung mit dir?«
    Sie lugte hinter dem Baum hervor, und Joe nickte ihr aufmunternd zu. Esteban fuhr hinter ihr heran, und sie stieg in den Wagen.
    Joe nahm das Gewehr an sich und sah zu dem Matrosen hinab. Mit hängendem Kopf hockte er im Wasser, die Arme um die Knie geschlungen wie jemand, der wieder zu Atem zu kommen versuchte.
    Esteban hielt neben ihm, und Graciela fiel halb in Joes Arme. Er fing sie auf; ihr Körper bebte, als hätte sie eine Hochspannungsleitung angefasst.
    Unweit entfernt bewegte sich etwas in den Mangroven. Ein langer, massiger Leib, so dunkelgrün, dass er fast schwarz war.
    Der Matrose rang nach Luft. Mit offenem Mund sah er zu Joe auf. »Sie sind ja weiß.«
    »So ist es«, sagte Joe.
    »Wieso haben Sie dann auf mich geschossen?«
    Joe sah Esteban, dann Graciela an. »Wenn wir ihn hier zurücklassen, wird er im Nu von den Biestern gefressen. Also…«
    Er hörte, wie noch mehr von ihnen ins Wasser glitten, während das Blut des Matrosen unablässig weiter in den Sumpf strömte.
    »Also«, sagte Joe. »Entweder nehmen wir ihn mit…«
    »Er würde sie wiedererkennen«, sagte Esteban.
    »Ich weiß«, sagte Joe.
    »Er hat Katz und Maus mit mir gespielt«, platzte Graciela heraus.
    »Was?«
    »Mich gehetzt wie ein Tier. Und die ganze Zeit über hat er gelacht wie ein kleines Mädchen.«
    Joe sah den Matrosen an, der seinen Blick erwiderte. Leise Furcht spiegelte sich in seinen Augen, doch sonst sprach nichts als purer Trotz aus ihm, die typische Sturheit eines Hinterwäldlers.
    »Wenn Sie glauben, ich würde um mein Leben betteln, sind Sie bei mir an der falschen –«
    Joe schoss ihm mitten ins Gesicht. Blut und Gehirnmasse spritzten über die Farne, während Alligatorenschwänze voller Vorfreude über das Wasser peitschten.
    Graciela stieß unwillkürlich einen Schrei aus, und um ein Haar hätte Joe es ihr gleichgetan. Esteban warf ihm einen Blick zu und nickte, dankbar, dass Joe die Drecksarbeit übernommen hatte, der es selbst noch nicht richtig glauben konnte, während das Echo des Schusses in seinen Ohren widerhallte, ihm Korditgestank in die Nase stieg und ein Rauchfaden vom Lauf der 32er aufstieg, der an die feinen Schwaden einer Zigarette erinnerte.
    Ein Mensch lag tot zu seinen Füßen. Ein Mensch, dessen Tod sich, recht besehen, letzten Endes Joes Geburt verdankte.
    Sie stiegen in den Spähwagen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Als hätten sie nur darauf gewartet, pirschten sich sofort zwei Alligatoren an die Leiche heran; der eine bewegte sich mit dem schwerfälligen Gang eines übergewichtigen Hundes durch das Unterholz, während der andere durch das von Seerosen bedeckte Wasser glitt.
    Esteban trat aufs Gas, während beide Reptile gleichzeitig über die Leiche herfielen, der eine Alligator sich in einem Arm, der andere in einem Bein verbiss.
    Wieder auf festem Boden, fuhr Esteban am Rand des Sumpfs parallel zur Straße in südöstlicher Richtung weiter.
    Joe und Graciela saßen auf dem Rücksitz. Alligatoren und Menschen waren nicht die einzigen Raubtiere, die den Sumpf an jenem Tag bevölkerten: Ein Panther stand an einem Tümpel und trank. Sein Fell hatte die gleiche bräunliche Farbe wie manche der Bäume, und Joe hätte ihn womöglich gar nicht bemerkt, wenn das Tier nicht aufgesehen

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