In der Nacht (German Edition)
Dielen erbebten und die Wände wackelten.
Dion tanzte mit drei Frauen gleichzeitig, wirbelte sie um sich herum und schwang sie erstaunlich gewandt zwischen seinen stämmigen Beinen hindurch. Doch der wahre Künstler unter den Tänzern war Esteban. Er bewegte sich so leichtfüßig wie eine Katze auf einem schmalen Ast, mit so stupender Meisterschaft, dass sich die Band seinem Tempo anpasste, nicht umgekehrt. Er erinnerte Joe an Rudolph Valentino in diesem Streifen, in dem er einen Stierkämpfer gespielt hatte, an genau diese Art maskuliner Grazie. Im Nu versuchte die Hälfte der anwesenden Frauen, ihn mit ihren Tanzkünsten zu beeindrucken oder ihn nach Hause abzuschleppen.
»Ich habe noch nie jemanden mit so einem Rhythmusgefühl gesehen«, sagte Joe zu Graciela.
Sie saßen zusammen in einer Nische. Sie beugte sich zu ihm. »Damit hat er sich früher ja auch sein Geld verdient.«
»Was meinst du?«
»Das war sein Beruf«, sagte sie. »Er hat in Havanna als Eintänzer gearbeitet.«
»Das soll ein Witz sein, oder?« Er sah sie an. »Gibt’s irgendwas, das er nicht draufhat?«
»Er war Profitänzer«, sagte sie. »Und ein richtig guter obendrein. Er hat es zwar nie zu einer Hauptrolle gebracht, war aber immer ziemlich gefragt. So hat er sich sein Jurastudium finanziert.«
Um ein Haar hätte sich Joe an seinem Drink verschluckt. »Er hat Jura studiert?«
»Ja. Eigentlich ist er Rechtsanwalt.«
»Mir hat er erzählt, er wäre auf einer Farm aufgewachsen.«
»Das stimmt ja auch. Meine Familie hat für seine Familie gearbeitet. Wir waren, äh…« Sie sah ihn fragend an.
»Tagelöhner?«
»Heißt das so?« Sie zog die Stirn in Falten, inzwischen mindestens so betrunken wie er selbst. »Nein, nein. Wir waren Pächter .«
»Dein Vater hat Ackerland gemietet und dafür mit einem Teil der Ernte bezahlt?«
»Nein.«
»Das nennt man Pacht. Mein Großvater war Pachtbauer in Irland.« Er versuchte möglichst nüchtern zu erscheinen, was ihm unter den gegebenen Umständen nicht eben leicht fiel. »Tagelöhner ziehen mit den Jahreszeiten von einer Farm zur anderen, um die jeweilige Ernte einzubringen.«
»Ah«, sagte sie, offenbar ein wenig eingeschnappt wegen der Belehrung. »Was du alles weißt, Joseph. So ein kluger Junge.«
»Du hast mich gefragt, chica .«
»Hast du mich gerade ›chica‹ genannt?«
»Ich glaube schon.«
»Dein Akzent ist furchtbar.«
»Genau wie dein Gälisch.«
»Was?«
Er winkte ab. »Ich lerne noch.«
»Sein Vater war ein großartiger Mann.« Ihre Augen schimmerten. »Er hat mich bei ihnen zu Hause aufgenommen. Ich hatte mein eigenes Zimmer, immer sauberes Bettzeug. Und einen Privatlehrer, bei dem ich Englisch gelernt habe. Ich, ein armes Mädchen vom Land.«
»Und was hat sein Vater als Gegenleistung verlangt?«
Sie las in seinen Augen. »Du bist widerlich.«
»Die Frage liegt auf der Hand.«
»Er hat gar nichts verlangt. Vielleicht hat er sich ein klein wenig etwas darauf eingebildet, was er alles für das kleine mittellose Mädchen getan hat, aber das war auch schon alles.«
Er hob eine Hand. »Okay, tut mir leid.«
»Es gibt durchaus gute Menschen«, sagte sie. »Auch wenn du es anscheinend vorziehst, dir schlechte Menschen schönzureden.«
Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte, weshalb er nur mit den Schultern zuckte und wortlos an seinem Glas nippte, bis sich die Stimmung zwischen ihnen wieder ein wenig entspannt hatte.
»Komm.« Sie glitt aus der Nische und ergriff seine Hand. »Lass uns tanzen.«
»Ich tanze nicht.«
»Heute Abend«, sagte sie, »tanzen alle.«
Er ließ sich von ihr auf die Tanzfläche ziehen, auch wenn es einfach nur peinlich war, ein und dasselbe Parkett mit Esteban oder auch nur Dion zu teilen und sein jämmerliches Gehopse als Tanzen auszugeben.
Und selbstredend lachte Dion ihn offen aus, doch Joe war schlicht zu betrunken, um sich darüber zu ärgern. Er überließ Graciela die Führung, und bald fand er in einen Rhythmus, bei dem er wenigstens halbwegs mit ihr Schritt halten konnte. Sie blieben eine ganze Weile auf der Tanzfläche, reichten sich eine Flasche dunklen Suarez-Rum hin und her. Doch obwohl sie ihm direkt gegenüberstand, die Hüften schwang, die Schultern kreisen ließ und dabei die Flasche an die Lippen setzte, sah er immer wieder vor sich, wie sie in dem Zypressensumpf um ihr Leben gelaufen war.
Er hatte für diese Frau getötet. Zugegeben, er hatte den Dreckskerl gern erledigt. Doch eine Frage war ihm den ganzen
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