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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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hätte, gerade mal zwanzig Meter von ihnen entfernt. Der Panther war mindestens 1,50   Meter lang, ganz Kraft und Geschmeidigkeit. Das Brustfell war cremeweiß, und von seinem feuchten Pelz stieg Dampf auf, während er den Wagen ins Auge fasste. Tatsächlich aber war sein Blick nicht auf den Wagen, sondern auf Joe gerichtet, und Joe sah ihm direkt in die kalt glänzenden Augen, so archaisch, gelb und gnadenlos wie die Sonne. Er war derart erschöpft, dass er einen Moment lang die Stimme des Panthers zu hören glaubte.
    Du kannst nicht entkommen.
    Was ist denn jetzt los?, wäre er um ein Haar herausgeplatzt, doch im selben Augenblick holperten sie über die Wurzeln eines umgestürzten Baums, und als Joe wieder aufsah, war der Panther verschwunden. Er ließ den Blick über den Sumpf schweifen, doch konnte er das Tier nirgendwo mehr entdecken.
    »Hast du die Raubkatze gesehen?«
    Graciela musterte ihn irritiert.
    »Den Panther«, sagte er und breitete die Arme aus.
    Sie runzelte die Stirn, als hätte er sich einen Sonnenstich geholt, und schüttelte den Kopf. Sie sah schlimm aus – ihr Körper war von oben bis unten voller Kratzer und Schrammen, ihr Gesicht geschwollen von seinen Schlägen. Moskitos und Bremsen hatten ihr Übriges getan und die Feuerameisen den Rest besorgt; ihre Füße und Waden waren von weißen Quaddeln mit roten Höfen übersät, der Saum ihres an mehreren Stellen gerissenen Kleids hing in Fetzen. Die Schuhe hatte sie bei ihrer Flucht durch den Sumpf verloren.
    »Du kannst das Ding wieder wegstecken«, sagte sie.
    Joe folgte ihrem Blick und sah, dass er die Waffe noch immer in der Hand hielt. Er ließ den Sicherheitsbügel einrasten und steckte die Pistole ins Holster.
    Esteban bog auf die Route 41 und trat so hart aufs Gas, dass die Reifen einen Moment lang durchdrehten, ehe der Wagen mit einem Ruck vorwärtsschoss. Joe blickte auf das schimmernde Band der Straße, blinzelte in die erbarmungslose Sonne, die von einem erbarmungslosen Himmel auf sie herabschien.
    »Er hätte mich getötet, ohne mit der Wimper zu zucken.« Der Fahrtwind wehte ihr das feuchte Haar ins Gesicht.
    »Ich weiß.«
    »Er hat mich gehetzt, als wäre ich ein Eichhörnchen. Und er hat in einem fort gerufen: ›Schätzchen, erst verpasse ich dir eine ins Bein, und dann bist du reif, Schätzchen.‹ Hat er damit gemeint, dass er mich…«
    Joe nickte.
    »Wenn du ihn am Leben gelassen hättest«, fuhr sie fort, »hätten mich hinterher garantiert die Cops einkassiert. Und du wärst sicher auch verhaftet worden.«
    Joe nickte abermals. Er nahm die Insektenstiche an ihren Knöcheln in Augenschein und ließ den Blick über ihre Beine und ihren Rock bis hinauf zu ihren Augen wandern. Sie musterte ihn so unverwandt, dass er den Blick wieder abwandte, ehe sie auf einen Orangenhain hinaussah, der an ihnen vorbeizufliegen schien. Nach einer Weile drehte sie sich wieder zu ihm.
    »Glaubst du, ich hätte ein schlechtes Gewissen?«, fragte er.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ich habe keine Gewissensbisse«, sagte er.
    »Dafür gibt es auch keinen Grund.«
    »Aber ich fühle mich auch nicht besonders toll.«
    »Dafür gibt es noch weniger Grund.«
    Und damit war so ziemlich alles gesagt.
    Ich bin kein Gesetzloser mehr, dachte er. Ich bin ein Gangster.
    Der durchdringende Geruch von Zitrusfrüchten wich erneut dem Gestank von Sumpfgasen. Eine ganze Meile lang sah sie ihn an, ohne zwischendurch den Blick abzuwenden, und keiner von ihnen sprach ein Wort, ehe sie in West Tampa angekommen waren.

17
    Tage wie dieser
    Zurück in Ybor, hielt Esteban vor dem Haus, in dem Graciela ein Zimmer über einem Café bewohnte. Joe brachte sie nach oben, während Esteban und Sal Urso nach South Tampa weiterfuhren, um sich des Wagens zu entledigen.
    Gracielas Zimmer war klein und adrett. Gegenüber dem schmiedeeisernen, weißgestrichenen Bett befand sich ein Porzellanwaschbecken unter einem ovalen Spiegel mit ebenfalls weißem Rahmen. Ihre Kleider hingen in einem ramponierten Schrank aus Kiefernholz, der aussah, als könne er das Gebäude zum Einsturz bringen; nirgendwo war das kleinste bisschen Staub oder Schimmel zu sehen, was Joe bei dem Klima für unmöglich gehalten hätte. Das einzige Fenster ging auf die Eleventh Avenue hinaus; die Jalousien hatte sie unten gelassen, um die Hitze draußen zu halten. In der Ecke stand eine Spanische Wand, die aus demselben stark gemaserten Holz wie der Schrank gezimmert war. Sie bedeutete Joe, sich zum Fenster zu drehen,

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