In der Nacht (German Edition)
Tag über nicht aus dem Kopf gegangen – warum er dem Matrosen ins Gesicht geschossen hatte. So etwas tat man nur, wenn man seinen Zorn nicht zügeln konnte. Normalerweise schoss man einem Gegner in die Brust. Doch Joe hatte ihm das Gesicht weggeblasen. Und zwar deshalb, wie ihm nun aufging, während er sich in ihren rhythmischen Bewegungen verlor, weil sich im Blick des Matrosen nichts als blanke Verachtung für Graciela gespiegelt hatte. Weil sie eine dunkle Hautfarbe hatte, war es keine Sünde, sie zu vergewaltigen, sondern nichts weiter als ein kriegerischer Akt. Ob sie dabei lebendig oder tot gewesen wäre, hätte für Cyrus kaum eine Rolle gespielt.
Die Flasche in der einen Hand, hob Graciela die Arme über den Kopf und kreuzte die Handgelenke. Ihre Lider waren halb geschlossen, und ein schiefes Lächeln spielte um ihre zerschundenen Lippen.
»Worüber denkst du nach?«, fragte sie.
»Über diesen Tag.«
»Was meinst du?«, doch dann sah sie es in seinen Augen. Sie senkte die Arme und reichte ihm die Flasche, ehe sie zusammen die Tanzfläche verließen.
»Der Kerl ist mir egal«, sagte er. »Ich wünschte nur, es hätte eine andere Möglichkeit gegeben.«
»Es gab aber keine.«
Er nickte. »Deshalb tut es mir auch nicht leid. Es tut mir bloß leid, dass es passiert ist.«
Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand. »Wie dankt man dem Mann, der einem das Leben gerettet hat?«
Er reckte das Kinn.
Sie lachte. »Überleg dir was anderes, chico .«
»Sag doch ganz einfach danke.« Er griff nach der Flasche und nahm einen Schluck.
»Danke.«
Er verbeugte sich mit weit ausholender Geste und taumelte ihr in die Arme. Sie gab einen kleinen Schrei von sich, wehrte ihn sogar mit einem Klaps ab, half ihm dann aber, sich wieder aufzurichten. Lachend und außer Atem stolperten sie zum nächsten Tisch.
»Wir werden nie ein Paar sein«, sagte sie.
»Warum nicht?«
»Weil wir gebunden sind.«
»Also, mein Mädchen ist tot.«
»Mein Mann womöglich auch.«
»Was du nicht sagst.«
Sie schüttelte ein paarmal hintereinander den Kopf, um den Alkoholnebel zu vertreiben. »Dann lieben wir Geister.«
»Sieht so aus.«
»Und die Geister, die wir riefen, werden wir nun nicht mehr los.«
»Du bist betrunken«, sagte er.
Sie lachte und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf ihn. » Du bist betrunken.«
»Wohl wahr«, sagte er.
»Jedenfalls wird aus uns bestimmt kein Paar.«
»Das sagst du.«
Es war, als würden zwei Autos in voller Fahrt zusammenstoßen, als sie zum ersten Mal in ihrem Zimmer über dem Café miteinander schliefen. Sie prallten regelrecht aufeinander, fielen vom Bett, warfen einen Stuhl um, und als er in sie eindrang, grub sie ihre Zähne so fest in seine Schulter, dass Blut kam. Es war schneller vorbei, als man eine Suppenschüssel hätte abtrocknen können.
Beim zweiten Mal eine halbe Stunde später träufelte sie Rum auf seine Brust und leckte ihn ab; er tat es ihr gleich, und diesmal nahmen sie sich Zeit, ließen sich auf den Rhythmus des anderen ein. Sie hatte sich erst nicht küssen lassen wollen, doch auch dieser Vorsatz war wenige Minuten später vergessen. Sie probierten alles aus, küssten sich mal sanft, mal heftig, bissen sich in die Lippen oder spielten nur mit ihren Zungen.
Es überraschte ihn, wie viel Spaß sie dabei hatten. Joe hatte in seinem Leben mit sieben Frauen geschlafen, doch Liebe gemacht – und das war es doch, worum es ging – hatte er nur mit Emma. Aber auch wenn der Sex zwischen ihnen zügellos und gelegentlich sogar beseelt gewesen war, hatte Emma doch stets einen Teil von sich zurückgehalten. Manchmal hatte er das Gefühl gehabt, sie sähe ihnen beim Sex zu, während sie miteinander schliefen. Und hinterher hatte sie sich wie immer tief in ihr Schneckenhaus zurückgezogen.
Graciela hingegen hielt nichts zurück, schon gar nicht sich selbst. Was ihn einem ziemlich hohen Verletzungsrisiko aussetzte – impulsiv krallte sie die Finger in seine Haare, packte ihn mit ihren Zigarrenrollerhänden so ungestüm am Hals, dass er halb befürchtete, sie würde ihm jede Sekunde das Genick brechen, grub ihre Zähne in seine Haut, seine Muskeln, seine Knochen. Doch war es mehr als nur das: Sie umschlang ihn förmlich mit ihrem Körper, trieb den Akt an eine Grenze, jenseits derer sie buchstäblich zu verschmelzen schienen, sich gleichsam ineinander aufzulösen drohten.
Als er am nächsten Morgen erwachte, musste er über diesen törichten Gedanken unwillkürlich lächeln. Sie
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