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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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den Spiegel sehen, weil ich weiß, dass ich auf dem rechten Weg bin. Und Sie?«
    Joe öffnete die Wagentür.
    »Warten Sie!«
    Joe sah den Mann an, der da auf der Veranda stand, einen Mann, der nicht mehr derselbe war – weil Joe das Fundament seines Wesens erschüttert, ihm etwas geraubt hatte, das er niemals zurückerlangen würde.
    Figgis’ fahriger Blick richtete sich auf Joes Jacke. Seine Stimme bebte. »Haben Sie noch mehr von diesen Fotos?«
    Joe spürte sie in seiner Innentasche, so abstoßend wie eine schwärende Wunde.
    »Nein.« Er stieg ein und fuhr los.

19
    Die guten alten Zeiten
    John Ringling, der Zirkusimpresario und große Gönner Saratogas, hatte das Ritz-Carlton auf Longboat Key anno ’26 erbaut, war aber anschließend in Geldnöte geraten. Und so stand das verlassene Gebäude direkt am Wasser, mit der Rückseite zum Golf; ein nie fertiggestelltes Hotel mit leeren Zimmern und Decken, denen die Stuckleisten fehlten.
    Bald nach seiner Ankunft in Tampa hatte Joe ein gutes Dutzend Ausflüge der Küste entlang gemacht und sich nach Plätzen umgesehen, wo sich unbemerkt Schmuggelware ausladen ließ. Melasselieferungen gingen direkt in den Hafen von Tampa; er und Esteban hatten die Stadt so gut unter Kontrolle, dass sie nur eine von zehn Ladungen verloren. Sie schmuggelten aber auch bereits abgefüllten Rum, spanischen anís und orujo direkt von Havanna nach West Central Florida. Dadurch sparten sie sich zwar einerseits den zeitraubenden Destillierungsprozess; andererseits bestand jedoch das verschärfte Risiko, dass die Schmugglerboote dem langen Arm der Prohibitionsaufsicht – Zollbehörden, FBI und Küstenwache – in die Hände fielen. Und egal, wie brillant und draufgängerisch Farruco Diaz als Pilot auch sein mochte: Er konnte die Gesetzeshüter zwar aus der Luft sichten, ihnen aber eben nicht Einhalt gebieten. (Weshalb er sich auch weiterhin für ein Maschinengewehr und einen MG -Schützen starkmachte.)
    Doch solange Joe und Esteban nicht beschlossen, der Küstenwache und J. Edgars Beamten offen den Krieg zu erklären, waren die kleinen, der Küste vorgelagerten Barriereinseln – Longboat Key, Casey Key, Siesta Key und andere – perfekte Orte, um unterzutauchen oder eine Lieferung zwischenzulagern.
    Außerdem waren es perfekte Orte, um dem Gesetz in die Falle zu gehen. Und zwar deswegen, weil die Inseln nur auf zwei Wegen zu erreichen waren – entweder per Boot oder über eine Brücke. Eine Brücke. Wenn man also umzingelt war, Megaphone plärrten und Suchscheinwerfer umherhuschten und man keinen Flieger parat hatte, landete man im Expresstempo im Kittchen.
    Im Lauf der Jahre hatten sie etwa ein Dutzend Ladungen im Ritz untergebracht. Nicht Joe persönlich, doch hatte er eine Menge Geschichten über das Hotel gehört. Ringling hatte den Rohbau noch fertiggestellt; die Erdarbeiten waren abgeschlossen gewesen, auch die Rohrleitungen bereits verlegt, doch dann hatte er das Projekt von einem Tag auf den anderen aufgegeben. Hatte das riesige Gebäude im spanisch-mediterranen Stil einfach so stehenlassen, einen Dreihundert-Zimmer-Palast, der hell erleuchtet wahrscheinlich noch in Havanna zu sehen gewesen wäre.
    Joe traf eine Stunde früher ein. Die Taschenlampe, die ihm Dion besorgt hatte, war nicht schlecht, benötigte aber immer wieder kleine Pausen. Ihr Strahl wurde nach und nach immer schwächer, ehe das Licht zu flackern begann und schließlich ganz erstarb. Jedes Mal musste Joe sie ein paar Minuten ausschalten, bevor sie wieder funktionierte und dann abermals den Geist aufgab. Während er in einem dunklen Raum in der zweiten Etage verharrte, der wohl für ein Restaurant bestimmt gewesen war, kam ihm der Gedanke, dass Menschen wie Taschenlampen waren – sie leuchteten, bis sich ihr Licht unweigerlich trübte, zu flackern begann und verlosch. Es war eine ebenso düstere wie kindische Vorstellung, doch tatsächlich hatte sich seine Stimmung auf der Fahrt entlang der Küste mehr und mehr verdüstert. Sein Groll auf RD Pruitt hatte auch etwas durchaus Kindisches, weil er genau wusste, dass er nur einer von vielen war. Er war nicht die Ausnahme, er war die Regel. Und selbst wenn es Joe gelang, ihn ein für alle Mal abzuservieren, würde über kurz oder lang ein neuer RD Pruitt auftauchen.
    Es war ein illegales und daher zwangsläufig schmutziges Geschäft. Und schmutzige Geschäfte zogen immer Dreckskerle an. Dumpfe Hirne, tumb und brutal.
    Joe trat auf die weiße Kalksteinveranda, lauschte der

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