In der Nacht (German Edition)
selbst zu den Leuten, für die meine Eltern arbeiten mussten«, sagte sie.
Joe schwieg. Jede Antwort, die ihm einfiel, wäre eine Lüge gewesen.
Etwas war ihnen abhandengekommen. Ein Teil ihres Lebens hatte sich vom Dunkel ans Tageslicht verlagert, dahin, wo die feinen Leute, die Versicherungsmakler und Bankiers lebten, wo die Gemeindeversammlungen stattfanden, die Flaggen bei den Paraden auf der Hauptstraße geschwenkt wurden, wo man die Wahrheit über sich selbst gegen die Legende eintauschte.
Doch draußen, auf trüb beleuchteten Bürgersteigen, in dunklen Gassen und auf verlassenen Grundstücken, bettelten Menschen um Essen und warme Decken. Und wenn man an ihnen vorbei war, warteten ihre Kinder an der nächsten Straßenecke.
Tatsache war, dass ihm die Legende von sich gefiel. Und zwar um Längen besser als die Wahrheit über ihn. Er selbst empfand sich immer noch als zweitklassig, halbseiden und fehl am Platz. Er sprach immer noch mit Bostoner Akzent, trug immer noch die falschen Klamotten, und vieles von dem, was ihm durch den Kopf ging, hätten die meisten Leute wohl als »seltsam« empfunden. Der Wahrheit entsprach, dass er ein verängstigter kleiner Junge war, den seine Eltern vergessen hatten wie eine Lesebrille an einem Sonntagnachmittag, der dann und wann von zwei älteren Brüdern in den Arm genommen wurde, die ohne Vorwarnung auftauchten und ebenso schnell wieder verschwanden. Sein wahres Ich war ein einsames Kind in einem leeren Haus, das darauf wartete, dass jemand an seiner Zimmertür klopfte und fragte, ob alles in Ordnung war.
Seine Geschichte hingegen war die eines Gangsterprinzen. Die eines Mannes, der Chauffeur und Leibwächter, Geld und Einfluss hatte. Eines Mannes, für den andere Gäste sofort ihre Plätze räumten, weil er ihren Tisch haben wollte.
Graciela hatte recht – sie waren zu den Leuten geworden, für die ihre Eltern geschuftet hatten. Doch gleichzeitig hatten sie deren kühnste Träume noch übertroffen, und genau das hätten die armen Schlucker auch von ihnen erwartet. Die Reichen konnte man nicht bezwingen. Man konnte sich ihnen lediglich so weit annähern, dass sie sich das bei einem holten, was ihnen fehlte.
Er verließ die Veranda und betrat wieder das Hotel. Erneut knipste er die Taschenlampe an, ließ den Strahl durch den Saal wandern und sah sie buchstäblich vor sich – die High Society, wie sie trank, aß, das Tanzbein schwang und all das tat, was die High Society den lieben langen Tag so trieb.
Aber was trieb die High Society eigentlich sonst so?
Ihm fiel keine spontane Antwort ein.
Und was machten die kleinen Leute?
Sie arbeiteten. Wenn sie denn Arbeit finden konnten. Und selbst wenn nicht, zogen sie Kinder groß, fuhren ihre Autos, vorausgesetzt, dass sie sich Benzin und Wartung leisten konnten. Sie gingen ins Kino oder zum Tanzen, lauschten dem Radio. Sie rauchten.
Und die Reichen…?
Sie spielten.
Im Strahl der Taschenlampe sah Joe alles glasklar vor sich. Während der Rest des Landes vor den Suppenküchen anstand oder um Kleingeld bettelte, blieben die Reichen reich. Sie rührten keinen Finger und langweilten sich zu Tode.
Und das Restaurant, durch das er gerade ging, dieses Restaurant, das es nie gegeben hatte, war gar kein Restaurant. Es war ein Kasino. Er sah den Roulettetisch in der Mitte, die Tische für Würfel- und Kartenspiele, Perserteppiche und Kronleuchter mit rubinroten Gehängen.
Er verließ den Raum. Während er den Korridor hinunterging, verwandelten sich die Konferenzräume, an denen er vorbeikam, vor seinem inneren Auge in Konzertsäle – für Big Bands, Vaudeville, kubanischen Jazz, ja, sogar ein Kino war denkbar.
Die Zimmer. Er lief hinauf in den dritten Stock und nahm die Räumlichkeiten mit Blick auf den Golf in Augenschein. Heiliger Strohsack, es war einfach überwältigend. Jede Etage würde ihren eigenen Butler bekommen, der die Gäste direkt am Fahrstuhl in Empfang nehmen und ihnen rund um die Uhr zur Verfügung stehen würde. Alle Zimmer würden selbstredend mit Radio und Deckenventilator ausgestattet sein, vielleicht sogar mit diesen neumodischen französischen Toiletten, mit denen man sich den Hintern waschen konnte. Masseurinnen, die auf Abruf bereitstanden, 24-Stunden-Zimmerservice, zwei, nein, drei Concierges für die besonders prominenten Gäste. Er ging wieder hinunter in den ersten Stock. Die Taschenlampe, die abermals eine Erholungspause brauchte, schaltete er aus, da er mit der Treppe inzwischen hinreichend
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