In der Nacht (German Edition)
Brandung und Ringlings importierten Königspalmen, deren Wedel in der warmen nächtlichen Brise raschelten.
Die Abstinenzler standen auf verlorenem Posten; im ganzen Land formierte sich eine immer breitere Front gegen den 18. Zusatzartikel. Die Prohibition würde enden. Vielleicht erst in zehn, möglicherweise aber auch schon in zwei Jahren. Ihre Todesanzeige war bereits geschrieben, nur noch nicht veröffentlicht. Und Joe und Esteban hatten sich in alle möglichen Importfirmen am Golf und an der Ostküste eingekauft. Augenblicklich waren sie relativ knapp bei Kasse, doch an dem Morgen, an dem Alkohol wieder legal war, brauchten sie nur noch den Schalter umzulegen, und für ihr Unternehmen würde eine neue Zeitrechnung anbrechen. Die Destillerien waren allesamt betriebsbereit. Noch waren ihre Speditionen auf den Transport von Glaswaren spezialisiert, und noch standen ihre Abfüllbetriebe in Diensten diverser Limonadenhersteller, doch am Nachmittag besagten Tages würde ihnen eine bestens geölte Maschinerie zur Verfügung stehen, um schätzungsweise sechzehn bis achtzehn Prozent des amerikanischen Rummarkts zu übernehmen.
Joe schloss die Augen, sog die Seeluft tief in die Lungen und fragte sich, wie viele RD Pruitts seinen Weg noch kreuzen würden, bevor er sein Ziel erreicht hatte. Tatsächlich war ihm die Denkweise eines RD völlig fremd, eines Menschen, der mit der ganzen Welt auf Kriegsfuß stand, einen Feldzug führte, der nur in seinem Kopf stattfand und unweigerlich mit dem Tod enden musste, weil er nur im Tod Heil und Frieden auf dieser Erde finden konnte. Und vielleicht waren es nicht nur RD und seinesgleichen, die Joe so schwer auf dem Magen lagen, sondern die Mittel, zu denen man greifen musste, um solchen Existenzen das Handwerk zu legen. Man musste dasselbe schmutzige Spiel treiben wie sie. Man war gezwungen, einem anständigen Mann wie Irving Figgis Bilder von der Vergewaltigung seiner Erstgeborenen zu zeigen, Bilder eines Mädchens, über dessen Arme sich Einstichspuren zogen, die wie die Zeichnung einer Strumpfbandnatter aussahen.
Das zweite Foto hätte er Irving Figgis nicht zeigen müssen; er hatte es dennoch getan, um die Sache zu beschleunigen. Und genau das war es, was ihm mehr und mehr über dieses Geschäft zu denken gab, in dem er es so weit gebracht hatte – je öfter man seine Prinzipien im Namen der Notwendigkeit in den Wind schlug, desto leichter fiel es einem.
Am Abend zuvor waren Graciela und er erst auf ein paar Drinks im Riviera gewesen, hatten dann im Columbia gespeist und sich anschließend eine Band im Satin Sky angesehen. Sal Urso, der mittlerweile Joes Chauffeur war, fuhr den Wagen, gefolgt von Lefty Downer, der stets die Nachhut bildete, wenn Dion anderweitig beschäftigt war. Der Barkeeper im Riviera war gestolpert und hatte sich das Knie gestoßen, als er eilfertig Gracielas Stuhl hatte hervorziehen wollen, bevor sie an ihrem Tisch angelangt war. Als die Bedienung im Columbia einen Drink an Joes Platz verschüttet hatte, waren sowohl der Oberkellner und der Restaurantleiter und schließlich auch der Besitzer des Lokals an ihrem Tisch aufgekreuzt, um sich in aller Form zu entschuldigen. Joe hatte mit Engelszungen auf sie einreden müssen, um die sofortige Entlassung der Kellnerin zu verhindern, ihnen erklärt, es habe sich lediglich um ein Versehen gehandelt, ansonsten seien sie von ihr wie immer erstklassig bedient worden. ( Bedienen. Joe hasste das Wort.) Natürlich hatten die Männer eingelenkt, doch welche Wahl hätten sie auch gehabt, wie Graciela ihn auf dem Weg zum Satin Sky erinnerte. Warten wir mal ab, ob sie ihren Job nächste Woche noch hat, sagte sie. Im Satin Sky waren alle Tische besetzt, doch bevor Joe und Graciela zum Wagen zurückgehen konnten, wieselte auch schon Pepe, der Geschäftsführer, herbei und versicherte ihnen, dass vier Stammkunden soeben ihre Rechnung bezahlt hatten, während Joe und Graciela beobachteten, wie zwei Männer an einen Vierertisch traten und die beiden dort sitzenden Paare freundlich, aber bestimmt nötigten, den Club im Eiltempo zu verlassen.
Als sie Platz genommen hatten, saßen sie sich erst einmal eine Weile wortlos gegenüber. Sie nippten an ihren Drinks, verfolgten das Treiben auf der Bühne. Graciela sah hinaus zu Sal, der neben dem Wagen stand und sie im Auge behielt, ließ den Blick durch den Raum, über die Gäste und Kellner schweifen, die allesamt so taten, als würden sie sie nicht beobachten.
»Jetzt gehöre ich
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