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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
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Gewalt gebiert Gewalt. Das ist ein Naturgesetz.« Er löste die Hände voneinander und sah seinen Sohn eindringlich an. »Was du in die Welt setzt, kehrt immer zu dir zurück.«
    »Ja, Dad, ich kenne das Vaterunser.«
    Sein Vater wandte den Kopf, als Emma von der Damentoilette kam und sich geradewegs zur Garderobe begab. Während er sie im Auge behielt, fuhr er fort: »Und es kommt in ganz anderer Gestalt, als du voraussehen kannst.«
    »Bestimmt.«
    »Deine einzige Sicherheit ist deine Selbstgewissheit. Und Selbstvertrauen, das man sich nicht verdient hat, strahlt seit jeher am hellsten.« Thomas beobachtete, wie Emma dem Garderobenmädchen ihre Marke reichte. »Zugegeben, sie ist ja nicht gerade hässlich.«
    Joe schwieg.
    »Aber davon abgesehen«, fuhr sein Vater fort, »verstehe ich beim besten Willen nicht, was du an ihr findest.«
    »Weil sie aus Charlestown stammt?«
    »Tja, das macht sie mir leider nicht sympathischer«, erwiderte Thomas. »Ihr Vater war früher Zuhälter, und ihr Onkel hat unseren Informationen zufolge mindestens zwei Menschen umgebracht. Aber darüber könnte ich durchaus hinwegsehen, Joseph, wenn sie nicht so…«
    »Was?«
    »Leblos wirken würde. Als sei irgendetwas in ihr schon lange tot.« Thomas warf erneut einen Blick auf seine Uhr, während er mehr schlecht als recht ein Gähnen unterdrückte. »Spät geworden, mein Junge.«
    »Von wegen tot«, sagte Joe. »Etwas in ihrem Herzen schläft bloß, das ist alles.«
    »Und wenn du mich fragst«, sagte sein Vater, als Emma mit den Mänteln zurückkam, »wacht dieses Etwas nie wieder auf.«
    Auf dem Weg zu seinem Wagen sagte Joe: »Hättest du dich nicht –«
    »Was?«
    »Ein bisschen intensiver am Gespräch beteiligen können? Ein wenig freundlicher wär’s schon gegangen, oder?«
    »Seit wir zusammen sind«, erwiderte sie, »liegst du mir ununterbrochen damit in den Ohren, wie sehr du diesen Mann hasst.«
    »Ununterbrochen?«
    »So ziemlich.«
    Joe schüttelte den Kopf. »Ich habe nie gesagt, dass ich meinen Vater hasse.«
    »Was denn sonst?«
    »Dass wir nicht miteinander klarkommen. Das war schon immer so.«
    »Und warum?«
    »Weil wir uns zu ähnlich sind.«
    »Oder eben bloß, weil du ihn hasst.«
    »Ich hasse ihn nicht.« Und das war die reine Wahrheit.
    »Dann kannst du ja heute Nacht unter seine Decke kriechen.«
    »Was soll das denn jetzt?«
    »Hast du nicht mitbekommen, wie er mich angesehen hat? Als wäre ich der letzte Dreck! Seine Fragen über meine Familie, als wären wir schon in Irland nur ein Haufen Taugenichtse gewesen! Und dann nennt er mich auch noch meine Liebe !« Sie bebte vor Zorn, während die ersten Schneeflocken aus dem Dunkel auf den Gehsteig trudelten. Die Tränen, die eben noch ihre Stimme erstickt hatten, standen nun auch in ihren Augen. »Wir sind keine Menschen, niemand bringt uns auch nur den geringsten Respekt entgegen. Wir sind bloß die Goulds aus der Union Street. Der Abschaum von Charlestown. Wir klöppeln die Spitze für eure beschissenen Gardinen!«
    Joe hob die Hände. »Was hast du denn?« Als er die Hand nach ihr ausstreckte, wich sie zurück.
    »Fass mich nicht an!«
    »Ist ja schon gut.«
    »Was ich habe? Mein Leben lang muss ich mich von Leuten wie deinem Vater von oben herab behandeln lassen. Von Leuten, die, die, die… die sich für etwas Besseres halten, nur weil sie mehr Glück gehabt haben. Wir sind nicht weniger wert als ihr. Wir sind kein Abschaum!«
    »Das habe ich nie gesagt.«
    »Aber er.«
    »Hat er nicht.«
    »Ich bin kein Abschaum«, flüsterte sie, ihr halb geöffneter Mund ein Schlitz im Dunkeln, während sich der Schnee mit den Tränen vermischte, die ihr über die Wangen liefen.
    Er breitete die Arme aus und trat zu ihr. »Okay?«
    Sie überließ sich seiner Umarmung, ohne sie selbst zu erwidern. Er hielt sie fest, und als sie an seiner Brust weinte, versicherte er ihr ein ums andere Mal, dass sie kein Abschaum, nicht weniger wert als andere war und dass er sie liebte, sie über alles liebte.
    Später lagen sie zusammen in seinem Bett, während dicke, nasse Schneeflocken wie Motten gegen das Fenster klatschten.
    »Ich hatte einen schwachen Moment«, sagte sie.
    »Was meinst du?«
    »Auf der Straße. Ich habe mich gehenlassen.«
    »Quatsch. Du warst nur ehrlich.«
    »Ich weine nie vor anderen.«
    »Vor mir brauchst du dich nicht zu schämen.«
    »Du hast gesagt, dass du mich liebst.«
    »Ja.«
    »Wirklich?«
    Er sah ihr in die grauen, grauen Augen. »Ja.«
    Sie schwieg
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