In der Nacht (German Edition)
dabei gewesen, als er Harvey Boule erdrosselt hatte. Es ging um Opium, eine Frau oder einen Deutsch-Kurzhaar; bis zu diesem Tag hatte Joe lediglich Gerüchte gehört. Doch Harvey war ins Kasino gekommen, um die Angelegenheit zu klären, und nach einem kurzen Wortgefecht hatte Tim das Kabel von einer der grünen Bankierlampen gerissen und um Harveys Hals geschlungen. Harvey war ein Schrank von einem Mann und wehrte sich etwa eine Minute lang wie ein Löwe, während die Nutten sich in Sicherheit brachten und Hickeys Revolvermänner allesamt ihre Waffen zückten und auf Harvey richteten. Joe sah in seinen Augen, wie ihm die grausame Wahrheit dämmerte – selbst wenn es ihm gelang, Tim abzuschütteln, würden dessen Handlanger die Geschosse aus vier Revolvern und einer Automatik in seinen Körper entleeren. Er ging in die Knie, gleichzeitig gab sein Schließmuskel mit einem deutlich hörbaren Geräusch nach, und dann lag er bäuchlings auf dem Boden, Tim über sich, der ihm das Knie zwischen die Schulterblätter drückte und das Kabel mit einer Hand noch fester zog. Mit aller Kraft schnürte er ihm die Luft ab, während Harvey so verzweifelt mit den Beinen strampelte, dass seine Schuhe quer durch den Raum flogen.
Tim schnippte mit den Fingern, worauf ihm jemand einen Revolver reichte. Dann steckte er den Lauf in Harveys Ohr. »O Gott«, platzte eine der Huren heraus, doch just in dem Moment, als Tim abdrücken wollte, verschleierte ein ebenso verwirrter wie resignierter Ausdruck Harveys Blick, und einen Moment später hauchte er sein Leben auf dem falschen Perserteppich aus. Tim hockte sich rittlings auf seinen Rücken und gab die Waffe zurück, um dann das Profil des Mannes zu betrachten, den er gerade getötet hatte.
Joe hatte noch nie jemanden sterben sehen. Keine fünf Minuten zuvor hatte Harvey noch mit dem Mädchen gesprochen, das ihm seinen Martini gebracht hatte, sie gefragt, wie es beim Spiel der Sox stand. Und ihr obendrein ein richtig gutes Trinkgeld gegeben. Er hatte auf seine Uhr gesehen und sie wieder eingesteckt. Einen Schluck von seinem Martini getrunken. Keine fünf Minuten war das her, und jetzt war er… Wo? Wer wusste das schon? Bei Gott, beim Teufel, im Fegefeuer oder, noch schlimmer, nirgendwo? Tim erhob sich, fuhr sich durch die schneeweiße Mähne und deutete vage zu seinem Geschäftsführer hinüber. »Eine Runde für alle. Das geht auf Harvey.«
Ein paar Anwesende lachten nervös, doch die meisten sahen aus, als müssten sie sich auf der Stelle übergeben.
Harvey war nicht der Einzige in den vergangenen Jahren gewesen, dessen Tod auf Tims Konto ging, doch zuvor hatte er nie jemanden in Joes Gegenwart ermordet.
Und nun hatte es Tim selbst erwischt. Er war nicht mehr da, und er würde auch nicht zurückkommen. Als hätte er nie existiert.
»Hast du schon mal gesehen, wie jemand umgebracht wurde?«, fragte Joe.
Emma musterte ihn eine Weile schweigend und zog an ihrer Zigarette. »Ja.«
»Wenn man tot ist, wo kommt man dann hin?«
»Ins Leichenschauhaus.«
Er starrte sie an, bis dieses typische winzige Lächeln ihre Lippen umspielte. Eine Haarsträhne war ihr ins Gesicht gefallen.
»Ich glaube, man kommt nirgendwohin«, sagte sie dann.
»Allmählich glaube ich das auch«, sagte Joe. Er setzte sich auf und küsste sie heftig auf den Mund, und sie erwiderte seinen Kuss ebenso heftig, die Beine um seinen Rücken geschlungen. Sie fuhr ihm mit der Hand durch die Haare, und während sie die letzten Züge von ihrer Zigarette nahm, ließ er sie keinen Sekundenbruchteil aus den Augen, als könne ihm sonst etwas entgehen, eine wichtige Regung, etwas, das er nie mehr vergessen würde.
»Tja, was, wenn es tatsächlich kein Danach gibt?«, sagte sie. »Und das « – sie setzte sich rittlings auf ihn – »soll dann alles gewesen sein?«
»Traumhaft«, sagte er.
Sie lachte. »Ja, finde ich auch.«
»Ganz allgemein? Oder speziell mit mir?«
Sie drückte die Zigarette aus, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn. Sie schaukelte vor und zurück. »Mit dir.«
Aber er war eben nicht der Einzige, mit dem sie solche Dinge tat.
Denn da war immer noch Albert. Immer noch Albert.
Ein paar Tage später spielte Joe im Billardzimmer gleich neben dem Kasinobereich gegen sich selbst, als Albert White hereinkam – mit der Selbstgewissheit eines Mannes, der davon ausging, dass ihm grundsätzlich alle Hindernisse aus dem Weg geräumt wurden, bevor er überhaupt auf sie traf. Begleitet wurde er von
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