In der Nacht (German Edition)
wie Tausende von Mädchen vor ihr«, sagte Esteban. » Du hast sie nicht ausgenutzt.«
»Aber Männer unseres Schlags.« Joe stellte seinen Drink auf dem Schreibtisch ab und schritt auf dem Teppich hin und her, während er versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Jeder einzelne Bereich in unserem Geschäft finanziert einen anderen. Mit dem Alkohol finanzieren wir die Mädchen, und mit den Mädchen finanzieren wir die Drogen, die wiederum andere Mädchen dazu bringen, es für unseren Profit mit wildfremden Dreckskerlen zu treiben. Und wenn ebendiese Mädchen aufmüpfig werden oder aussteigen wollen, kassieren sie Prügel, und nicht zu knapp, das weißt du genauso gut wie ich, Esteban. Sie versuchen ein neues Leben anzufangen, vertrauen sich irgendeinem smarten Arschloch von Cop an, der sie für seine Zwecke missbraucht, und am Ende landen sie als Leiche im nächstgelegenen Fluss. Die letzten zehn Jahre haben wir damit verbracht, unsere Konkurrenten plattzumachen, einen nach dem anderen. Und wofür? Für nichts als verdammtes Geld.«
»Ein Leben abseits des Gesetzes hat eben auch seine hässlichen Seiten.«
»Vergiss es«, gab Joe zurück. »Wir sind keine Gesetzlosen. Wir sind Gangster und sonst gar nichts.«
Esteban hielt seinem Blick ein paar lange Augenblicke stand, ehe er schließlich antwortete. »Wenn du den Moralischen kriegst, kann kein Mensch mehr vernünftig mit dir reden.« Er zog das gerahmte Foto zu sich heran und warf einen Blick darauf. »Wir sind nicht unseres Bruders Hüter, Joseph. Es wäre eine Beleidigung für unsere Mitmenschen, wenn wir ihnen nicht mal zutrauen würden, einigermaßen auf sich selbst aufpassen zu können.«
Loretta, dachte Joe. Loretta, Loretta. Wir haben von dir genommen, was wir nur kriegen konnten, und dann erwartet, dass du weitermachst, als wäre nichts geschehen.
Esteban deutete auf das Foto. »Sieh dir doch bloß mal diese Leute an. Sie tanzen, trinken und genießen ihr Leben. Weil sie wissen, dass sie schon morgen tot sein könnten. Und genauso könnten wir beide morgen tot sein, du und ich. Tja, und wenn einer von ihnen, sagen wir mal, dieser Typ hier…«
Esteban zeigte auf einen bulldoggengesichtigen Kerl im weißen Abendanzug, hinter dem sich eine Gruppe von Frauen in glitzernden Lamé- und Paillettenkleidern versammelt hatte, als wollten sie den feisten Burschen jede Sekunde auf ihre Schultern hieven.
»…auf der Fahrt nach Hause gegen den nächsten Baum knallt, weil er so viel Suarez Reserve intus hat, dass er nicht mehr geradeaus gucken kann – mal Hand aufs Herz, ist das unsere Schuld?«
Joe ließ den Blick über all die hübschen Frauen auf dem Bild schweifen, zum größten Teil Kubanerinnen, die ebenso dunkles Haar und dunkle Augen wie Graciela hatten.
»Ist das unsere Schuld?«, wiederholte Esteban.
Bis auf eine. Sie war etwas kleiner und schaute nicht in die Kamera, sondern richtete den Blick auf etwas außerhalb des Bildes, als hätte jemand ihren Namen gerufen, kurz bevor Esteban den Auslöser betätigt hatte. Eine Frau mit sandfarbenem Haar und dezembergrauen Augen.
»Was?«, sagte Joe.
»Ist das unsere Schuld?«, sagte Esteban. »Wenn irgendein mamón beschließt, sich so richtig –«
»Wann ist die Aufnahme gemacht worden?«, fragte Joe.
»Wann?«
»Ja, genau. Wann?«
»Bei der Eröffnung des Zoot.«
»Und wann war das?«
»Letzten Monat.«
Joe sah ihn über den Schreibtisch hinweg an. »Sicher?«
Esteban lachte. »Hundertprozentig. Ist schließlich mein Restaurant.«
Joe leerte sein Glas auf einen Zug. »Es ist nicht zufällig zu einem anderen Zeitpunkt geknipst worden? Und irgendwie unter die Bilder von der Eröffnung geraten?«
»Quatsch. Zu was für einem anderen Zeitpunkt?«
»Vor etwa sechs Jahren?«
Esteban musterte Joe irritiert und schüttelte den Kopf. »Nein, Joseph. Nein, nein, und nochmals nein. Das Foto ist einen Monat alt. Warum?«
»Weil ich diese Frau hier kenne.« Joe tippte mit dem Finger auf Emma Gould. »Sie ist schon lange tot. Genauer gesagt, seit 1927.«
Dritter Teil
Die Brut der Gewalt
1933—1935
23
Der Schnitt
Bist du sicher, dass sie es ist?«, fragte Dion am nächsten Morgen in Joes Büro.
Joe zog das Foto aus der Innentasche seiner Jacke und legte es auf den Schreibtisch. »Was meinst du?«
Dion runzelte die Stirn, stutzte, und dann weiteten sich seine Augen. »Ja. So sicher wie das Amen in der Kirche.« Er sah Joe von der Seite an. »Hast du Graciela davon
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