In der Nacht (German Edition)
Schreibtisch herum und drückte Joe an sich, ehe er ihm mehrmals hintereinander auf die Schulter klopfte, und zwar um einiges fester, als Joe ihm zugetraut hätte.
»Jetzt«, sagte er, »bist du ein Mann.«
»Wie?«, sagte Joe. »Darauf kommt es an?«
»Nicht immer, aber in deinem Fall…« Mit lässiger Handbewegung deutete Esteban zwischen ihnen hin und her, und Joe holte zu einem vorgetäuschten Schwinger aus, ehe Esteban ihn erneut an seine Brust drückte. »Ich freue mich für dich, mein Lieber.«
»Danke.«
»Hat sie sich verändert?«
»Und wie, auch wenn ich es nicht richtig beschreiben kann. Sie scheint geradezu von innen zu leuchten.«
Sie tranken auf seine Vaterschaft, während jenseits der Fensterläden, auf der anderen Seite von Estebans üppigem grünen Garten und den mit Lampions geschmückten Bäumen, der Freitagabend anbrach, leise Musik und gedämpfte Stimmen an ihre Ohren drangen.
»Gefällt es dir hier?«
»Was meinst du?«, fragte Joe.
»Als du damals hier angekommen bist, warst du totenbleich. Dein Haarschnitt stammte noch vom Knastfriseur, und du hast geredet wie ein Maschinengewehr.«
Joe lachte, und Esteban lachte mit.
»Fehlt dir Boston?«
»Ja«, sagte Joe. Manchmal hatte er regelrecht Heimweh.
»Aber jetzt ist Ybor dein Zuhause.«
Joe nickte, auch wenn ihn die Erkenntnis selbst ein bisschen überraschte. »Ich denke schon.«
»Ich weiß, wie du dich fühlst. Selbst nach all den Jahren kenne ich das restliche Tampa immer noch nicht. Aber in Ybor kenne ich mich ebenso gut aus wie in Havanna, und ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden würde, wenn ich eine Wahl treffen müsste.«
»Glaubst du, dass Machado…«
»Machado ist erledigt. Es mag vielleicht noch etwas dauern, aber über kurz oder lang ist er weg vom Fenster. Die Kommunisten glauben, dass sie dann die Macht übernehmen können, aber das werden die Amerikaner niemals zulassen. Meine Freunde und ich haben eine exzellente Lösung in der Hinterhand, einen sehr gemäßigten Mann, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Zeit reif für einen gemäßigten Kurs ist.« Er zog eine Grimasse. »Das bereitet den Leuten bloß Kopfzerbrechen. Das Volk will Parolen, keine Politik der kleinen Schritte.«
Er legte das Glas mit dem Bild in den Rahmen, setzte die Rückwand ein und nahm wieder den Kleber zur Hand. Mit einem Tuch entfernte er anschließend ein paar Reste und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Dann nickte er, nahm ihre leeren Gläser mit an die Bar und schenkte ihnen noch zwei Drinks ein.
Er reichte Joe sein Glas. »Hast du schon gehört, was mit Loretta Figgis passiert ist?«
Joe nahm das Glas entgegen. »Wieso? Ist sie über den Hillsborough River gewandelt?«
Esteban sah ihn mit steinerner Miene an. »Sie hat sich umgebracht.«
Joe hielt in der Bewegung inne. »Wann?«
»Gestern Nacht.«
»Wie?«
Esteban schüttelte den Kopf und ging wieder hinter seinen Schreibtisch.
»Was hat sie sich angetan, Esteban?«
Esteban sah in den Garten hinaus. »Anscheinend hat sie wieder Heroin genommen.«
»Aha…«
»Sonst hätte sie das niemals fertiggebracht.«
»Esteban«, sagte Joe.
»Sie hat ihre Genitalien verstümmelt, Joe. Und dann –«
»Nein«, stieß Joe hervor. »Verdammt noch mal, nein.«
»Und dann hat sie sich die Kehle durchgeschnitten.«
Joe schlug die Hände vors Gesicht. Vor seinem inneren Auge sah er Loretta, wie sie ihm vor vier Wochen in Ninos Café gegenübergesessen hatte, sah sie vor sich, wie sie als junges Mädchen in kariertem Kleid, weißen Söckchen und Sattelschuhen, Bücher unter dem Arm, die Treppe im Polizeipräsidium hinaufgeeilt war, ehe dieses Bild von einem anderen ersetzt wurde, das zwar nur seiner Vorstellung entsprang, aber doppelt so plastisch war – wie sie sich in einer Badewanne voller Blut auf furchtbare Weise Gewalt antat, den Mund in einem nicht enden wollenden Schrei geöffnet.
»War es eine Badewanne?«
Verwundert runzelte Esteban die Stirn. »Was für eine Badewanne?«
»Hat sie sich in einer Badewanne umgebracht?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Im Bett. Im Bett ihres Vaters, um genau zu sein.«
Abermals schlug Joe die Hände vors Gesicht, und diesmal nahm er sie nicht wieder herunter.
»Jetzt sag mir bitte, dass du dir nicht die Schuld daran gibst«, verlangte Esteban nach einer Weile.
Joe schwieg.
»Joseph, sieh mich an.«
Joe senkte die Hände und atmete tief aus.
»Sie ist nach Los Angeles gegangen und ausgenutzt worden
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