In der Nacht (German Edition)
weil er den Gedanken nicht ertragen kann, dass fremde Männer bei seiner Tochter gelegen haben wie er einst bei seiner Frau.« Sie beugte sich vor und rollte ein verstreutes Zuckerkörnchen mit ihrem Zeigefinger hin und her. »Und dann schleicht er im Dunkeln durchs Haus und spricht unablässig die gleichen zwei Worte vor sich hin.«
»Was denn?«
»Tut Buße.« Sie sah ihn an. »Tut Buße, tut Buße, tut Buße.«
»Geben Sie ihm Zeit«, sagte Joe noch einmal, da ihm einfach nichts anderes einfallen wollte.
Ein paar Wochen später kleidete sich Loretta wieder ganz in Weiß. Noch immer strömten die Leute in Scharen zu ihren Predigten, während derer sie nun mit neuen Finessen – billigen Tricks, wie manche spotteten – aufwartete, wenn sie etwa in Zungen sprach oder sich derart in Ekstase redete, dass Schaum vor ihrem Mund stand. Und nie hatte ihre Stimme eindringlicher geklungen.
Eines Morgens stieß Joe in der Zeitung auf ein Bild von ihr. Es zeigte Loretta bei einer Großversammlung der Pfingstbewegung in Lee County, und im ersten Augenblick kam sie ihm vor wie eine völlig Fremde, obwohl sie sich kein bisschen verändert hatte.
Am 23. März 1933 unterzeichnete Franklin D. Roosevelt den Cullen-Harrison Act, durch den Herstellung und Verkauf von Bier und Wein mit maximal 3,2 % Alkoholgehalt legalisiert wurden. Außerdem versprach der Präsident, dass der 18. Zusatzartikel zur Verfassung am Ende des Jahres nur noch Schnee von gestern sein würde.
Joe traf sich mit Esteban im Tropicale. Er kam zu spät, was ihm in letzter Zeit immer häufiger passierte, weil die Uhr seines Vaters nachging. In der letzten Woche waren es noch fünf Minuten am Tag gewesen; jetzt waren es schon zehn, manchmal fünfzehn. Eigentlich wollte Joe sie reparieren lassen, doch dazu hätte er sie auf unbestimmte Zeit aus der Hand geben müssen, und diesen Gedanken konnte er nicht ertragen.
Als er das Büro betrat, war Esteban gerade damit beschäftigt, ein weiteres Foto zu rahmen, das er auf seiner letzten Reise nach Havanna geschossen hatte, diesmal von der Eröffnung des Zoot, seines neuen Clubs in der Altstadt. Er zeigte Joe das Bild, das sich nur unwesentlich von den anderen unterschied: angetrunkene, übermäßig herausgeputzte Gecken mit ihren ebenso aufgetakelten Frauen, Freundinnen oder Begleitungen, ein paar Tänzerinnen vor der Bühne, allesamt in bester Partystimmung. Joe warf einen flüchtigen Blick darauf und stieß wie üblich einen anerkennenden Pfiff aus. Esteban legte das Foto mit dem Gesicht nach unten auf den Schreibtisch. Er schenkte ihnen etwas zu trinken ein und machte sich daran, die Einzelteile des Rahmens zusammenzusetzen; der Gestank des Klebstoffs war so durchdringend, dass er sogar den Tabakgeruch in Estebans Arbeitszimmer überlagerte, was Joe für vollkommen unmöglich gehalten hätte.
»Jetzt ring dir doch mal ein Lächeln ab«, sagte Esteban und prostete Joe zu. »Bald sind wir steinreich.«
»Vorausgesetzt, dass Pescatore mich machen lässt«, sagte Joe.
»Wenn er zögert«, sagte Esteban, »ködern wir ihn mit einer Beteiligung an einem legalen Unternehmen.«
»Dann werden wir ihn nie los.«
»Er ist alt.«
»Er hat Partner. Und drei Söhne.«
»Über die weiß ich so gut wie alles – der eine ist ein Päderast, der andere opiumabhängig, und der dritte schlägt sowohl seine Frau als auch seine Freundinnen, weil er eigentlich auf Männer steht.«
»Mit Erpressung kommen wir bei Maso nicht weit, fürchte ich. Außerdem steht er übermorgen mal wieder auf der Matte.«
»Was? Er war doch neulich erst da.«
»So habe ich’s jedenfalls gehört.«
»Hmm. Ich mache schon mein ganzes Leben Geschäfte mit solchen Leuten. Das kriegen wir hin.« Abermals hob Esteban sein Glas. »Du bist es wert.«
»Danke«, sagte Joe, und diesmal trank er mit.
Esteban richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Rahmen. »Also, Kopf hoch.«
»Ich tu ja mein Bestes.«
»Dann geht’s also um Graciela.«
»Ja.«
»Was ist denn los?«
Sie hatten beschlossen, niemandem davon zu erzählen, solange man es ihr nicht ansah. Bevor sie an jenem Morgen aus dem Haus gegangen war, hatte sie auf die kleine Kanonenkugel gedeutet, die sich unter ihrem Kleid wölbte – ihr süßes Geheimnis würde sich wohl kaum länger verbergen lassen.
Zutiefst erleichtert, die Neuigkeit nicht länger für sich behalten zu müssen, sagte Joe: »Sie ist schwanger.«
Esteban machte große Augen, klatschte in die Hände, kam um den
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