In der Nacht (German Edition)
Risiko eingehen sollte, Joe abzulösen und künftig weniger abzukassieren. Davon abgesehen hatte sich Joe nichts zuschulden kommen lassen, was eine Ablösung gerechtfertigt hätte. Er hatte nichts unter der Hand in die eigene Tasche wandern lassen, und es bestand keinerlei Gefahr, dass er Maso seine Macht streitig machen würde.
Joe drehte sich zu Dion um. »Okay. Dann sieh zu, dass während des Treffens für meine Sicherheit gesorgt ist.«
»Schön wär’s«, sagte Dion. »Genau da liegt das Problem. Du kommst in ein Gebäude, in dem er alle Zimmer gebucht hat. Wahrscheinlich durchkämmen seine Leute gerade den gesamten Laden, was heißt, dass ich niemanden hineinschmuggeln kann. Ich kann auch nirgendwo Waffen hinterlegen. Du gehst blind da rein, und wir draußen sind genauso blind wie du. Wenn Maso die Order ausgibt, dass du da nicht lebend rauskommst« – Dion tippte mit dem Finger auf den Schreibtisch –, »kommst du da auch nicht lebend raus.«
Joe musterte seinen Freund eine ganze Weile. »Was ist denn mit dir los?«, fragte er dann.
»Das Ganze schmeckt mir nicht. Bloß so ein Gefühl.«
»Gefühle sind keine Tatsachen«, gab Joe zurück. »Und Tatsache ist, dass niemand etwas von meinem Tod hätte. Niemand würde davon profitieren.«
»Jedenfalls, soweit du weißt.«
Das Romero Hotel war ein neunstöckiges Backsteingebäude an der Ecke Eighth Avenue und Seventeenth Street. Es beherbergte normalerweise vor allem Handlungsreisende und Angestellte, die für ihre Firmen nicht wichtig genug waren, um sie im Tampa Bay Hotel unterzubringen. Es war ein gutes, ausgesprochen komfortables Hotel – alle Zimmer hatten Toilette und Waschbecken, die Bettwäsche wurde jeden zweiten Tag gewechselt, und sowohl morgens als auch freitag- und samstagabends stand ein Zimmerservice zur Verfügung –, doch einen Palast konnte man es beim besten Willen nicht nennen.
Am Eingang wurden Joe, Sal und Lefty von Adamo und Gino Valocco empfangen, zwei aus Kalabrien stammenden Brüdern. Gino hatte zur selben Zeit wie Joe in Charlestown gesessen, und sie hielten ein Schwätzchen, während sie durch das Foyer schlenderten.
»Und wohin hat’s dich verschlagen?«, fragte Joe.
»Nach Salem«, sagte Gino. »Gar nicht so schlecht.«
»Du hast dich häuslich niedergelassen?«
Gino nickte. »Ich habe eine Italienerin geheiratet. Zwei Kinder inzwischen.«
»Schon zwei?«, sagte Joe. »Na, du hältst dich ja ganz schön ran.«
»Ich habe mir immer eine große Familie gewünscht. Und wie steht’s bei dir?«
So nett es auch war, einen kleinen Plausch zu halten, hätte Joe einem verdammten Gorilla in tausend Jahren nichts von seiner bevorstehenden Vaterschaft erzählt. »Ich überlege noch.«
»Warte nicht zu lange«, sagte Gino. »Kleine Kinder können verdammt anstrengend sein.«
Es war eine dieser Szenen, wie man sie wohl nur in ihrer Branche erleben konnte, ebenso amüsant wie grotesk – während fünf Männer, von denen vier mit Maschinenpistolen bewaffnet waren, zu einem Fahrstuhl marschierten, unterhielten sich zwei von ihnen über Frau und Kinder.
Dort angekommen, erkundigte sich Joe noch ein bisschen genauer nach Ginos Familie, während er zu erspüren versuchte, ob es sich tatsächlich um einen Hinterhalt handelt. Sobald sie einstiegen, gab es kein Zurück mehr – da brauchten sie sich keine Illusionen zu machen.
Aber es waren ohnehin nur Illusionen. In dem Moment, als sie durch die Drehtür des Hotels getreten waren, hatten sie ihre Freiheit aufgegeben, und wenn es Maso auf ihr Leben abgesehen hatte, waren sie ihm hilflos ausgeliefert. Im Ernstfall kamen sie hier nicht mehr raus, da biss die Maus keinen Faden ab.
Vielleicht lag Dion richtig.
Vielleicht lag er auch falsch.
Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.
Die Valocco-Brüder blieben im Foyer. Im Fahrstuhl erwartete sie Ilario Nobile, dessen eingefallene Wangen und gelb verfärbter Teint sich einer chronischen Hepatitis verdankten. Im Umgang mit Schusswaffen galt Ilario als unvergleichlicher Virtuose. Es ging die Fama, er könne selbst bei Sonnenfinsternis einer Fliege beide Flügel abschießen und mit einer Thompson seinen Namen in die nächste Fensterbank gravieren, ohne dabei die Fensterscheiben zu Bruch gehen zu lassen.
Während sie in die oberste Etage hinauffuhren, unterhielt sich Joe mit Ilario ebenso zwanglos wie eben noch mit Gino Valocco. Ilario musste man nur auf seine Hunde ansprechen. Die Beagles, die er in seiner Freizeit züchtete,
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