In der Nacht (German Edition)
Kohle unter normalen Umständen etwa vier Jahre reichen würde, auf der Flucht aber vielleicht nur achtzehn Monate. Nun ja, bis dahin würde er schon eine Lösung ausbaldowern. Er war gut darin, sich etwas einfallen zu lassen.
Jede Wette , meldete sich eine Stimme in seinem Kopf zu Wort, die verdächtig nach der seines ältesten Bruders klang. Bis jetzt hat immer alles hingehauen.
Er rief in Onkel Bobos Speakeasy an, doch auch dort erreichte er niemanden. Dann überlegte er, ob Emma schon unterwegs zur Eröffnungssoiree im Statler Hotel war. Joe zog seine Uhr aus der Weste: Es war zehn Minuten vor vier.
Noch mindestens zwei Stunden, die er in einer Stadt totschlagen musste, in der es alle auf seinen Kopf abgesehen hatten.
Erheblich zu viel Zeit, um sich draußen in der Öffentlichkeit zu bewegen. Unterdessen würden sie seinen Namen und seine Adresse herausbekommen haben, eine Liste seiner aktenkundigen Komplizen und der Orte erstellen, an denen er sich regelmäßig aufzuhalten pflegte. Sie würden alle Bahnhöfe und Busbahnhöfe abriegeln, selbst auf dem Land, und an jeder nur erdenklichen Ecke Straßensperren errichten.
Doch das war nicht unbedingt schlecht. Die Straßensperren blockierten den Zugang zur Stadt unter der Prämisse, dass er sich nach wie vor außerhalb ihrer Grenzen befand. Niemand würde annehmen, dass er sich tatsächlich hier aufhielt, obendrein mit der Intention, sich gleich wieder aus dem Staub zu machen. Nur der dümmste Kriminelle aller Zeiten hätte es riskiert, in seine Heimatstadt zurückzukehren, nachdem er das aufsehenerregendste Verbrechen verübt hatte, das seit fünf, sechs Jahren in dieser Region passiert war.
Womit er der dümmste Kriminelle aller Zeiten war.
Oder der gewiefteste. Weil sie gerade überall nach ihm suchten, nur nicht direkt unter ihrer Nase .
Jedenfalls bildete er sich das ein.
Wie auch immer, ihm blieb nach wie vor, sich schleunigst vom Acker zu machen – warum hatte er das nicht gleich in Pittsfield getan? – und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Nicht erst in drei Stunden, sondern jetzt sofort, mit nichts als seinen Klamotten am Leib und einer Tasche voller Geld in der Hand. Ohne auf eine Frau zu warten, die es unter den gegebenen Umständen womöglich vorzog, lieber nicht mit ihm durchzubrennen. Ungeachtet der Tatsache, dass alle Straßen abgeriegelt waren, Busse und Bahnen rund um die Uhr kontrolliert wurden. Doch selbst wenn es ihm gelang, sich südwestlich aufs Land durchzuschlagen und dort ein Pferd zu stehlen, würde ihm das auch nicht viel bringen, da er keine Ahnung vom Reiten hatte.
Blieb noch das Meer.
In dem Fall benötigte er ein Boot, aber keine Freizeitgondel und auch nichts, was ganz offensichtlich nach Schmugglerkahn aussah. Er brauchte einen Arbeitskahn, einen mit rostigen Klampen, ausgefransten Tauen und einem Deck, auf dem sich verbeulte Hummerfallen stapelten. Irgendeinen Kutter, der in Hull, Green Harbor oder Gloucester vor Anker lag. Wenn er gegen sieben an Bord ging, würde der betreffende Fischer wahrscheinlich erst gegen drei oder vier Uhr morgens bemerken, dass sein Boot verschwunden war.
Nun stahl er auch noch von denen, die sich ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdienten.
Aber schließlich waren Boote ja registriert – und wenn das nicht der Fall war, würde er sich ein anderes suchen. Der Registrierung würde er die Adresse entnehmen und dem Besitzer genug Geld zukommen lassen, um sich zwei neue Boote kaufen oder das Hummergeschäft ein für alle Mal an den Nagel hängen zu können.
Womöglich erklärte genau diese Haltung, warum er trotz all der krummen Dinger selten reichlich Dollars in den Taschen hatte. Manchmal kam es ihm vor, als würde er bloß Geld von den einen stehlen, um es anderen zukommen zu lassen. Aber natürlich stahl er auch, weil es Spaß machte, weil er es draufhatte und die Raubzüge wiederum zu anderen Dingen führten, die er ebenfalls aus dem Effeff beherrschte – Schnapsbrennen und Rumschmuggel beispielsweise, weshalb er sich nicht zuletzt auch mit Booten auskannte. Im vergangenen Juni hatte er ein Boot von einem namenlosen Fischerdorf quer über den Huronsee nach Bay City in Michigan überführt, im Oktober ein weiteres von Jacksonville nach Baltimore, und erst im Winter hatte er Fässer mit frisch gebranntem Rum von Sarasota über den Golf von Mexiko nach New Orleans transportiert, wo er seine gesamte Kohle an einem Wochenende im French Quarter für Sünden verschleudert hatte, an
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