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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
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die er sich kaum mehr als bruchstückhaft erinnern konnte.
    Und so war er in der Lage, die meisten Boote zu steuern, was wiederum bedeutete, dass er jede Menge Kähne zur Auswahl hatte. Wenn er das Haus jetzt verließ, war er in einer halben Stunde an der South Shore. Der Weg zur North Shore war zwar ein wenig länger, doch um diese Jahreszeit würde er dort mehr Boote finden. Wenn er von Gloucester oder Rockport startete, konnte er in drei bis vier Tagen in Nova Scotia sein. Und ein paar Monate später konnte Emma dann nachkommen.
    Was ihm schon ein bisschen lang vorkam.
    Aber sie würde auf ihn warten. Sie liebte ihn. Zugegeben, sie sagte es nie, aber er spürte, dass sie sich danach sehnte. Sie liebte ihn. Er liebte sie.
    Sie würde warten.
    Aber vielleicht würde er trotz allem auf einen Sprung im Hotel vorbeisehen. Auf eine Stippvisite, womöglich fand er sie ja auf Anhieb. Wenn sie sich zusammen aus dem Staub machten, würde man sie in hundert Jahren nicht aufspüren. Wenn er hingegen allein verschwand, wurde es schwierig, Emma nachzuholen; bis dahin hatten Cops und FBI mit Sicherheit herausgefunden, wer sie war und was sie ihm bedeutete. Wenn sie in Halifax eintraf, dann garantiert mit einem Verfolgertrupp auf den Fersen – sobald er die Tür öffnete, um sie in die Arme zu schließen, würden sie im Kugelhagel sterben.
    Sie würde nicht warten.
    Also, entweder jetzt mit ihr zusammen – oder ohne sie bis in alle Ewigkeit.
    Er betrachtete sich im Glas des Geschirrschranks und erinnerte sich daran, warum er in erster Linie hierhergekommen war – egal, für was er sich entscheiden mochte, in diesem Aufzug würde er nicht weit kommen. Die linke Schulter seines Mantels war blutgeschwärzt, sein Hemd zerfetzt und dunkelrot gesprenkelt, und seine Schuhe und Manschetten starrten vor Schlamm.
    Er öffnete den Brotkasten und förderte eine Flasche A. Finke’s Widow Rum zutage. Oder schlicht Finke’s, wie die meisten sagten. Dann zog er die Schuhe aus und nahm sie und den Rum über die Dienstbotentreppe mit nach oben ins Schlafzimmer seines Vaters. Im Bad wusch er sich das Blut von seinem mittlerweile verschorften Ohr, so gut es eben ging, mit aller Vorsicht, um die Wunde nicht wieder aufbrechen zu lassen. Als er sicher war, dass es nicht wieder zu bluten anfangen würde, trat er zwei Schritte zurück und verglich seine beiden Gesichtshälften. Sobald die Wunde ganz verheilt war, würde niemand ein zweites Mal hinsehen. Außerdem war ja bloß der untere Teil seines Ohrs betroffen; klar sah man die Verletzung, doch ein blaues Auge oder eine gebrochene Nase wäre bei weitem mehr aufgefallen.
    Er nahm ein paar Schlucke aus der Rumflasche, während er die Garderobe seines Vaters in Augenschein nahm. Im Schrank hingen fünfzehn Anzüge, etwa dreizehn zu viel für das Gehalt eines Polizisten. Dasselbe galt für die vorhandenen Hemden, Krawatten, Hüte und Schuhe. Joe entschied sich für einen maßgeschneiderten braunen Nadelstreifen-Einreiher von Hart, Schaffner & Marx, ein weißes Arrow-Hemd, eine dunkle Seidenkrawatte mit diagonalen roten Streifen, ein Paar schwarzer Nettletons und einen Knapp-Felt-Fedora, so weich und glatt wie das Brustgefieder einer Taube. Er zog seine eigenen Klamotten aus und legte sie, fein säuberlich zusammengefaltet, neben sich auf den Boden, plazierte seine Pistole und seine Schuhe obenauf und schlüpfte in die Sachen seines Vaters. Zu guter Letzt steckte er sich die Pistole wieder hinten in den Hosenbund.
    Der Länge der Hosenbeine nach zu urteilen waren sein Vater und er doch nicht gleich groß, auch wenn es sich nur um ein, zwei Zentimeter handelte. Außerdem war sein Hut ein bisschen zu klein für Joes Kopf. Joe löste das Problem, indem er sich den Hut in den Nacken schob, so dass er ihm eine etwas beschwingte Aura verlieh. Dann krempelte er die Hosenaufschläge hoch und befestigte sie mit Sicherheitsnadeln aus der Nähschublade seiner verstorbenen Mutter.
    Anschließend trug er seine Sachen und die Flasche mit dem guten Rum hinunter ins Arbeitszimmer seines Vaters. Noch heute hatte er das Gefühl, ein Sakrileg zu begehen, wenn er das Büro seines Vaters in dessen Abwesenheit betrat. Er verharrte auf der Schwelle und lauschte den Geräuschen im Haus – dem Ticken der gusseisernen Heizkörper, dem leisen Ratschen der Standuhr in der Diele, die sich anschickte, vier zu schlagen. Obwohl er sicher war, dass sich außer ihm niemand im Haus befand, fühlte er sich beobachtet.
    Beim
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