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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Glockenschlag betrat Joe das Büro.
    Der Tisch stand vor den großen Erkerfenstern mit Blick auf die Straße. Es handelte sich um einen reichverzierten viktorianischen Doppelschreibtisch, der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Dublin geschreinert worden war – ein Prachtstück, von dem ein Kleinbauernsohn aus einem Drecksnest wie Clonakilty nicht im Traum geglaubt hätte, dass es je sein Wohnzimmer schmücken würde. Dasselbe galt für die dazu passende Anrichte, den Perserteppich, die schweren bernsteinfarbenen Gardinen, die Kristallkaraffen, die Eichenholzregale und die in Leder gebundenen Bücher, die sein Vater nie anrührte, die Vorhangstangen aus Bronze, das antike Ledersofa und die dazugehörigen Sessel, den Humidor aus Walnussholz.
    Joe öffnete eins der Kabinettschränkchen unter den Regalen, ging vor dem Safe in die Hocke, stellte die richtige Zahlenkombination ein – 3-12-10, entsprechend den Monaten, in denen er und seine zwei Brüder zur Welt gekommen waren – und öffnete die Tresortür. Im Safe befanden sich ein paar Schmuckstücke seiner Mutter, fünfhundert Dollar in bar, die Eigentumsdokumente für das Haus, die Geburtsurkunden seiner Eltern, ein Stapel Papiere, um den sich Joe nicht weiter kümmerte, und etwas mehr als tausend Dollar in Schatzanweisungen. Er nahm alles heraus und legte den ganzen Kram neben die rechte Tür des Schränkchens. Die Rückwand des Safes bestand aus demselben massiven Stahl wie der Rest. Joe entfernte sie, indem er mit den Daumen fest gegen die oberen Ecken drückte, und fasste das Zahlenkombinationsschloss ins Auge, das dahinter zum Vorschein kam.
    Die Kombination dieses Schlosses herauszufinden hatte ihn weit mehr Mühe gekostet. Vergebens hatte er alle Geburtstage in der Familie durchprobiert, dann die Nummern der Reviere, in denen sein Vater im Laufe der Jahre gearbeitet hatte – mit demselben Ergebnis. Als er sich daran erinnerte, dass sein Vater gelegentlich zu sagen pflegte, dass Glück, Pech und Tod immer dreimal aufeinanderfolgten, versuchte er es mit jeder erdenklichen Variation dieser Ziffer, abermals erfolglos. Mit vierzehn hatte er zum ersten Mal versucht, das Schloss zu öffnen. Und eines Tages – mittlerweile war er bereits siebzehn gewesen – war ihm ein Schreiben ins Auge gefallen, das sein Vater auf dem Tisch hatte liegen lassen – ein Brief an einen alten Freund, der inzwischen Chef der Feuerwehr in Lewiston, Maine, war. Der Brief, getippt auf der Underwood seines Vaters, bestand aus einer einzigen, schier endlosen Aneinanderreihung von Lügen – »Ellen und ich sind Kinder des Glücks, immer noch verliebt wie am ersten Tag…« »Aiden hat die Schicksalsschläge vom September ’19 glänzend überwunden…« »Connor macht bemerkenswerte Fortschritte…« und »Joseph wird ab Herbst voraussichtlich am Boston College studieren und könnte sich vorstellen, später im Aktienhandel zu arbeiten…« Und ganz am Ende all dieses Zinnobers hatte er mit Dein TXC unterschrieben. So wie immer. Er unterzeichnete nie mit seinem vollen Namen, so als würde er sich damit irgendwie bloßstellen.
    TXC .
    Thomas Xavier Coughlin.
    TXC .
    20-24-3.
    Nun stellte Joe die Zahlenkombination ein, und der zweite Safe öffnete sich mit einem scharfen Quietschen.
    Er war etwa zwei Fuß tief. Anderthalb Fuß davon waren mit Banknoten zugepackt – fetten, von roten Gummibändern zusammengehaltenen Dollarbündeln. Manche Scheine stammten noch aus der Zeit vor Joes Geburt, andere wiederum waren dort wohl erst eine Woche zuvor verstaut worden. So sah das aus, wenn jemand ein Leben lang abkassiert hatte: Schmiergeld, Schwarzgeld, Schweigegeld. Sein Vater – eine Stütze der Stadt auf dem Hügel, dem Athen Amerikas, dem Dreh- und Angelpunkt des Universums – war ein Krimineller, dem Joe in tausend Jahren nicht das Wasser reichen konnte. Allein deshalb, weil er nie herausbekommen hatte, wie man der Welt mehr als ein Gesicht zeigte, während sein Vater mit so vielen Gesichtern jonglierte, dass stets unklar blieb, was eigentlich Original und was Fälschung war.
    Joe wusste, dass er zehn Jahre lang ein Leben auf der Flucht führen konnte, wenn er jetzt den Safe ausräumte. Und wenn er weit genug kam, dass sie die Suche nach ihm abbrachen, konnte er sich sogar ins Zucker-und-Melasse-Geschäft einkaufen, sich an einer Destille beteiligen und innerhalb von drei Jahren zum Schwarzbrennerkönig aufsteigen, ohne sich je wieder Sorgen über eine warme Mahlzeit oder ein Dach über dem

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