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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
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Kopf machen zu müssen
    Aber er wollte das Geld seines Vaters nicht. Er hatte seine Klamotten genommen, weil ihm die Vorstellung gefiel, die Stadt in der Kleidung des alten Drecksacks zu verlassen, doch lieber hätte er sich selbst die Hände gebrochen, als sich an der Kohle seines Vaters zu vergreifen.
    Er nahm seine fein säuberlich zusammengelegten Sachen und plazierte sie zusammen mit den lehmverkrusteten Schuhen auf den dreckigen Dollarbündeln seines Vaters. Er überlegte, ob er eine Botschaft hinterlassen sollte, doch ihm fiel nichts Weltbewegendes ein, weshalb er einfach die Tür schloss, die falsche Rückwand wieder einsetzte und auch die erste Tresortür wieder verriegelte.
    Etwa eine Minute lang schritt er noch auf und ab, spielte sämtliche Möglichkeiten noch einmal durch. Auf der Suche nach Emma in einen Empfang hineinzuplatzen, bei dem so gut wie alle Honoratioren der Stadt anwesend sein würden – allesamt persönlich eingeladen und in Limousinen vorgefahren –, wäre blanker Wahnsinn gewesen. Es war kühl im Arbeitszimmer seines Vaters, und fast schien es ihm, als hätte doch etwas vom erbarmungslosen Pragmatismus seines alten Herrn auf ihn abgefärbt. Er musste mit dem vorliebnehmen, was ihm die Götter an die Hand gegeben hatten: einen Weg aus der Stadt, indem er geradewegs in sie hineinfuhr. Aber die Zeit zerrann ihm zwischen den Fingern. Er sollte schleunigst los, in den geklauten Dodge springen und Richtung Norden jagen, als würde der Asphalt in Flammen stehen.
    Es war ein nieseliger Frühlingsabend. Er sah auf die K Street hinunter und klammerte sich an den Gedanken, dass sie ihn liebte, dass sie auf ihn warten würde.
    Nachdem er sich hinter das Steuer des Dodge gesetzt hatte, warf er einen letzten Blick auf sein Elternhaus, das Haus, das ihn zu dem Mann gemacht hatte, der er heute war. Für einen Bostoner Iren war er in purem Luxus aufgewachsen. Er war nie hungrig zu Bett gegangen, hatte nie das harte Pflaster durch löchrige Schuhsohlen spüren müssen. Erst war er von Nonnen, dann von Jesuiten unterrichtet worden, bis er in der elften Klasse die Schule abgebrochen hatte. Verglichen mit den meisten Burschen in seiner Branche war er geradezu auf Rosen gebettet gewesen.
    Doch irgendwo in alldem klaffte ein Riesenloch. Die Distanz zwischen Joe und seinen Eltern entsprach der Distanz zwischen seiner Mutter und seinem Vater und dem Verhältnis seiner Mutter zum Rest der Welt. Vor seiner Geburt hatte zwischen seinen Eltern Krieg geherrscht, ein Krieg, der in einen so brüchigen Frieden gemündet war, dass dessen bloße Erwähnung ihn schon zu gefährden schien. Das Schlachtfeld zwischen ihnen existierte nach wie vor; sie stand auf ihrer Seite, er auf seiner. Und Joe saß in der Mitte, im Niemandsland, auf verbrannter Erde. Die Leere in seinem Elternhaus verdankte sich der Leere zwischen seiner Mutter und seinem Vater, und eines Tages hatte diese Leere auch von ihm Besitz ergriffen. Jahrelang hatte er gehofft, dass sich etwas ändern würde, doch schließlich erinnerte er sich nicht mal mehr, warum er sich überhaupt danach gesehnt hatte. Die Dinge waren nie so, wie sie sein sollten; sie waren, was sie waren, das war die simple Wahrheit, eine Wahrheit, an der es nichts zu rütteln gab, sosehr man es sich auch wünschte.
    Er fuhr zum East-Coast-Busterminal an der St.   James Avenue. Es war ein kleines gelbes, von einer Reihe größerer Häuser umgebenes Klinkergebäude, und Joe setzte darauf, dass die Cops, die hier eventuell nach ihm suchten, sich bei den Terminals auf der Nordseite des Gebäudes aufhielten und nicht bei den Schließfächern im südwestlichen Teil des Busbahnhofs.
    Er schlüpfte durch die Tür und geriet sofort in den Strom der Pendlermassen. Er ließ sich in der Menge treiben, locker und ohne Eile, und ausnahmsweise störte es ihn nicht, kein Gardemaß zu haben: Mitten im Gedränge war er bloß ein weiterer Kopf unter vielen, vielen anderen. Er erspähte zwei Cops nahe den Terminals und einen in der Menge, etwa zwanzig Meter von ihm entfernt.
    Er drehte ab und verschwand im Raum mit den Schließfächern. Hier setzte er sich, schlicht, weil er allein war, dem größten Risiko aus. Er hatte der Tasche bereits dreitausend Dollar entnommen und eingesteckt. In der rechten Hand hielt er den Schlüssel zu Schließfach 217, in der linken die Tasche. In seinem Schließfach befanden sich 7435   Dollar, zwölf Taschen- und dreizehn Armbanduhren, zwei Geldscheinklammern aus
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