In der Nacht (German Edition)
da sich dort reichlich Reporter und Fotografen tummelten.
Er senkte das Kinn und kämpfte sich zum nächstgelegenen Treppenaufgang durch – kein leichtes Unterfangen, weil die Menge in Richtung der Mikrophone und der massigen Frau in dem blauen Kleid drängte. Doch selbst mit eingezogenem Kopf erspähte er Chappie Geygan und Boob Fowler, die gerade ein Schwätzchen mit Red Ruffing hielten. Joe, Anhänger der Red Sox, solange er denken konnte, ermahnte sich im Stillen, dass es für einen Mann auf der Flucht womöglich keine so brillante Idee war, drei Baseballspieler anzuquatschen und mit ihnen über ihre Trefferquoten zu plaudern. Stattdessen drückte er sich nahe genug an ihnen vorbei, um womöglich ein paar Brocken darüber aufzuschnappen, ob Geygan und Fowler tatsächlich verkauft werden sollten, doch sie sprachen nur über den Aktienmarkt, und er hörte lediglich, wie Geygan sagte, richtig Schotter an der Börse ließe sich nur mit Termingeschäften machen, alles andere sei für Trottel, die lieber arm bleiben wollten. Im selben Augenblick trat die Frau im blauen Kleid ans Mikrophon und räusperte sich. Der Mann neben ihr hob die Hand.
» Ladies and Gentlemen, wir haben die Ehre, heute ein Hörvergnügen der besonderen Art zu übertragen«, sagte er. »Hier ist WBZ Radio, Boston, Wellenlänge 1030, live aus dem Foyer des einzigartigen Hotel Statler. Ich bin Edwin Mulver und freue mich, Ihnen Mademoiselle Florence Ferrel ansagen zu dürfen, Mezzosopranistin beim Symphonieorchester von San Francisco.«
Edwin Mulver trat mit hochgerecktem Kinn zurück, während Florence Ferrel noch einmal ihre Wasserwellen betastete und dann in ihr Mikrophon hauchte. Das Hauchen verwandelte sich unvermittelt in einen himmlisch hohen Ton, der den Zuhörern durch Mark und Bein ging und sich drei Etagen zur Decke emporschwang. Es war ein derart extravaganter und doch so authentischer Klang, dass Joe sich urplötzlich fühlte, als sei er der einsamste Mensch auf der ganzen Welt. Ihrer Stimme wohnte etwas Göttliches inne, und während es von ihrem Körper in seinen überging, wurde Joe jäh klar, dass er eines Tages sterben würde. Als er das Hotel betreten hatte, war sein Tod nichts weiter als eine entfernte Möglichkeit gewesen. Nun stellte er eine unumstößliche, grausame Gewissheit dar. Konfrontiert mit einem so klaren Beweis des Jenseitigen, spürte er, dass er unbedeutend und sterblich war wie alle anderen, dass bereits der Tag seiner Geburt nicht mehr als der Anfang vom Ende gewesen war.
Während sich die Sängerin weiter in der Arie vorarbeitete, wurden die Töne immer höher, immer länger, und Joe stellte sich ihre Stimme als einen dunklen, unendlich tiefen Ozean vor. Er betrachtete die Männer in ihren Smokings, die Frauen in ihren Taftkleidern, Seidenroben und Spitzengewändern, den Champagnerbrunnen in der Mitte des Foyers. Er erkannte einen Richter, Bürgermeister Curley, Gouverneur Fuller und einen weiteren Spieler der Sox, Baby Doll Jacobson. An einem der Flügel stand Constance Flagstead, ein hiesiger Theaterstar, und flirtete mit Ira Bumtroth, weithin bekannt als Strippenzieher, der über die richtigen Kontakte verfügte. Viele Gäste amüsierten sich, andere versuchten derart angestrengt, eine honorige Figur abzugeben, dass sie schlicht zum Lachen waren. Er sah strengblickende Männer mit Backenbart und vertrocknete Matronen in kirchenglockenartigen Kleidern, erspähte Mitglieder des Bostoner Geldadels, echte Blaublüter und schwerreiche Damen einer patriotischen Frauenvereinigung, Alkoholbarone und deren Anwälte und sogar den Tennisspieler Rory Johannsen, der im letzten Jahr bis ins Viertelfinale von Wimbledon vorgedrungen war, ehe ihn dieser Franzose, Henri Cochet, dann doch geschlagen hatte. Er sah bebrillte Intellektuelle, die sich größte Mühe gaben, nicht allzu offensichtlich zu einer Gruppe koketter Mädchen hinüberzugaffen, die zwar keinen allzu geistreichen Eindruck machten, aber hübsche Augen und außerordentlich wohlgeformte Beine hatten. Und alle, alle, alle waren sie zum Sterben verdammt. Wenn in fünfzig Jahren jemand ein Foto von dieser Gesellschaft betrachten würde, hätten die meisten der Anwesenden längst das Zeitliche gesegnet.
Florence Ferrel näherte sich bereits dem Ende ihrer Arie, als Joe erneut das Zwischengeschoss ins Auge fasste und Albert White erblickte, flankiert von seiner Ehefrau, die pflichtbewusst hinter seinem rechten Ellbogen stand. Sie war mittleren Alters und
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