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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
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Sterlingsilber, eine goldene Krawattennadel und eine ganze Reihe von Schmuckstücken, die er nicht verkauft hatte, aus Argwohn, von den Hehlern abgezockt zu werden. Er trat vor das Schließfach, hob die rechte Hand, die nur ein ganz klein wenig zitterte, und schloss auf.
    Hinter ihm rief jemand: »Hey!«
    Joe hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. Der Tremor in seiner Hand verwandelte sich in einen Krampf, als er die Tür des Schließfachs aufzog.
    »›Hey!‹, hab ich gesagt!«
    Joe beförderte die Tasche ins Fach und schloss die Tür.
    »Hey, du! Hey!«
    Joe schloss ab und steckte den Schlüssel wieder ein.
    »Hey!«
    Joe wandte sich um, vor seinem inneren Auge einen Cop mit gezücktem Revolver, wahrscheinlich jung und ziemlich nervös…
    Doch sein Blick fiel auf einen Wermutbruder, der auf dem Boden neben einem Mülleimer hockte – ein spargeldürrer Kerl, nichts als rote Augen, rote Wangen, Sehnen und Knochen. Er reckte das Kinn in Joes Richtung.
    »Ja, Scheiße, was gibt’s denn da zu glotzen?«, schnauzte er.
    Das Lachen, das unvermittelt aus Joes Kehle drang, klang wie ein Bellen. Er griff in die Tasche, kramte einen Zehner hervor und reichte ihn dem alten Säufer.
    »Ich schau doch nur, Väterchen.«
    Der Alte quittierte das mit einem Rülpsen, doch Joe war bereits auf dem Weg zum Ausgang und dann auch schon in der Menschenmenge verschwunden.
    Zurück auf der Straße, folgte er der St.   James Avenue ostwärts in Richtung der beiden Karbidscheinwerfer, die das neue Hotel von oben anstrahlten. Sein Geld sicher untergebracht zu wissen, bis er es wieder benötigte, verlieh ihm zumindest für ein paar Momente ein Gefühl der Sicherheit. Obwohl es ein recht unorthodoxer Schritt war für jemanden, der davon ausging, dass er sein Leben auf der Flucht verbringen würde.
    Wieso bunkerst du hier Geld, wenn du ohnehin vorhast, das Land zu verlassen?
    Damit ich darauf zurückgreifen kann.
    Weshalb solltest du darauf zurückgreifen müssen?
    Falls sie mich doch kriegen.
    Siehst du? Da hast du deine Antwort.
    Wieso? Was für eine Antwort?
    Du willst nicht, dass sie das Geld bei dir finden.
    Genau.
    Weil du genau weißt, dass sie dich schnappen werden.

5
    Knochenarbeit
    Er betrat das Statler Hotel durch den Personaleingang. Als ihn erst ein Page und dann ein Tellerwäscher misstrauisch beäugte, hob er den Hut, hielt zwei Finger hoch und lächelte verschwörerisch – ein Bonvivant, der den Menschenmassen aus dem Weg gehen wollte, und sie nickten ebenfalls lächelnd zurück.
    Während er durch die Küche marschierte, hörte er die Klänge eines Pianos und einer beschwingten Klarinette, begleitet von einem steten Bassrhythmus. Er stieg einen dunklen Betonaufgang nach oben, öffnete eine Tür und stand vor einer Marmortreppe, die geradewegs in ein Reich aus Licht, Rauch und Musik führte.
    Joe war schon in einigen Luxushotels gewesen, doch das hier übertraf seine kühnsten Vorstellungen. Der Cellist und der Klarinettist standen nahe den schweren Messingtüren, die so blank geputzt waren, dass sich die im Licht tanzenden Staubpartikel golden färbten. Korinthische Säulen reckten sich vom Marmorboden zu schmiedeeisernen Balkonen empor. Die Wände waren mit Stuck aus Alabaster verziert, und von der Decke hingen schwere Kronleuchter, ebenso ausladend geformt wie die fast zwei Meter hohen Kandelaber. Auf Orientteppichen luden dunkelrote Sofas zum Verweilen ein. An den entgegengesetzten Enden des Foyers standen zwei über und über mit weißen Blumen geschmückte Flügel. Die Pianisten ließen schmeichlerische Melodien perlen, warfen sich gegenseitig die Themen zu und gingen spontan auf die Menge ein.
    Vor der Haupttreppe hatte der Sender WBZ drei Radiomikrophone nebst Ständern aufgestellt. Dort unterhielt sich eine voluminöse Frau in einem hellblauen Kleid mit einem Mann, der einen beigefarbenen Anzug und eine gelbe Fliege trug. Die Frau rückte wiederholt ihre modischen Wasserwellen zurecht und nippte an einem Glas, in dem sich eine neblig-trübe Flüssigkeit befand.
    Die meisten Männer trugen Smoking. Einige aber waren nicht ganz so förmlich gekleidet, so dass Joe in seinem Anzug nicht weiter auffiel. Allerdings trug er als Einziger einen Hut. Er überlegte, ob er ihn absetzen sollte, doch genauso gut hätte er den Gästen auch eine der Spätausgaben mit seinem Konterfei auf der Titelseite unter die Nase halten können. Er sah nach oben und ließ den Blick über das Zwischengeschoss schweifen: jede Menge Hüte,
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