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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
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gertenschlank, das genaue Gegenteil all der anderen gutsituierten Gattinnen, deren Leibesfülle nicht zu übersehen war. Das Auffälligste an ihr waren die Augen, selbst aus dieser Entfernung. Ihr Blick wirkte angsterfüllt, fast panisch, selbst als sie über eine Bemerkung Alberts lächelte, die sogar Bürgermeister Curley, der gerade mit einem Glas Scotch zu ihnen gestoßen war, zu einem breiten Grinsen nötigte.
    Joe ließ den Blick über den Balkon wandern, und da war sie plötzlich: Emma. Sie trug ein silbernes Cocktailkleid und stand zwischen ein paar anderen Leuten an der Eisenbrüstung, ein Glas Champagner in der linken Hand. In diesem Licht war ihre Haut hell wie der Alabaster an den Wänden, und sie wirkte einsam, in sich versunken, als bedrücke sie ein stiller Kummer. War das ihr wahres Gesicht, das sie ihm sonst nicht zu zeigen wagte? Trauerte sie womöglich einem unaussprechlichen Verlust hinterher? Einen Moment befürchtete er, sie würde sich über die Brüstung stürzen, doch dann verwandelte sich ihre betrübte Miene urplötzlich in ein Lächeln. Im selben Augenblick begriff er, was der Grund für ihre Trauer gewesen war: Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn jemals wiederzusehen.
    Ihr Lächeln wurde breiter, und sie bedeckte den Mund mit der Hand, wobei sie das Champagnerglas schräg hielt. Ein paar Tropfen fielen nach unten. Ein Mann fasste sich in den Nacken und sah nach oben. Eine korpulente Frau wischte sich über die Augenbraue und zwinkerte mehrmals mit ihrem rechten Auge.
    Emma wandte den Kopf und sah zu der Treppe hinüber, die von seiner Seite der Lobby nach oben führte. Joe nickte, und sie wandte sich von der Brüstung ab.
    Er verlor sie aus den Augen, während er sich den Weg durch die Menge bahnte. Ihm war aufgefallen, dass die Reporter im Zwischengeschoss ihre Hüte in den Nacken geschoben und ihre Krawatten gelockert hatten. Und so ließ er seinen Hut ebenfalls ein Stück nach hinten wandern und löste seinen Binder, während er sich durch die letzten Grüppchen Richtung Treppe quetschte.
    Officer Donald Belinski kam ihm entgegen, ein Gespenst, das sich irgendwie vom Boden des Teichs aufgerappelt und das verbrannte Fleisch von den Knochen gekratzt hatte. Jedenfalls schritt er gerade die Treppe hinab – dasselbe blonde Haar, derselbe narbige Teint, dieselben absurd roten Lippen, derselbe fahle Blick. Aber Moment – dieser Typ war massiger, eigentlich eher rotblond und hatte bereits hohe Schläfen. Und obwohl Joe den toten Belinski nur auf dem Rücken hatte liegen sehen, war er ziemlich sicher, dass der Cop größer als dieser Mann gewesen war; wahrscheinlich hatte er sogar besser gerochen, der Kerl stank nämlich penetrant nach Zwiebeln. Im selben Moment bemerkte Joe, wie sich die Augen des Burschen verengten. Er strich sich eine Strähne öligen rotblonden Haars aus der Stirn, in der freien Hand seinen Hut, in dessen Band sein Presseausweis steckte. Joe trat ihm im letzten Moment aus dem Weg.
    »Pardon«, sagte Joe.
    »Kein Problem«, gab der andere zurück, doch Joe spürte seinen Blick im Nacken, während er die nächsten Stufen nahm und nicht fassen konnte, dass er nun auch noch so blöd gewesen war, nicht nur irgendjemandem, sondern ausgerechnet einem Reporter direkt ins Gesicht zu sehen.
    »Entschuldigung«, rief ihm der Typ hinterher, »Sie haben was verloren.« Aber Joe wusste genau, dass das nicht stimmte. Er eilte weiter, kämpfte sich durch eine Gruppe von reichlich angeschickerten Leuten, die gerade die Treppe betraten, darunter eine Frau, die an einer anderen hing wie ein nasser Fetzen, und dann hatte er sie auch schon hinter sich gelassen, lief weiter, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, den Blick in die Zukunft gerichtet.
    Auf sie.
    Sie hielt eine kleine, zu ihrem Kleid, der Silberfeder und dem Silberband in ihrem Haar passende Tasche in Händen. Eine zarte Vene pulsierte an ihrer Kehle. Ihre Schultern bebten; ihre Lider flatterten. Er musste an sich halten, um sie nicht auf der Stelle in die Arme zu schließen und hochzuheben, so dass sie die Beine um ihn schlingen und ihr Gesicht an das seine schmiegen konnte. Doch stattdessen ging er an ihr vorbei und sagte: »Da hat mich gerade jemand erkannt. Lass uns schleunigst abhauen.«
    Sie passte sich seinem Schritt an, während er über einen roten Teppich am großen Ballsaal vorbeimarschierte. Auch hier wimmelte es nur so von Gästen, doch war es nicht ganz so gedrängt voll wie im Foyer. Am Rand der Menge konnten sie
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