In der Nacht (German Edition)
sich problemlos fortbewegen.
»Beim nächsten Balkon ist ein Lastenaufzug«, sagte sie. »Damit kommen wir runter in den Keller. Ich kann nicht glauben, dass du hier bist.«
Er bog nach rechts in den nächsten Gang ab, blieb stehen und zog sich den Hut tief in die Stirn. »Was hätte ich sonst machen sollen?«
»Fliehen.«
»Wohin?«
»Woher soll ich das wissen? In deiner Situation hätte das wohl jeder so gemacht.«
»Ich bin aber nicht jeder.«
Im hinteren Teil des Zwischengeschosses herrschte wieder dichtes Gedränge. Unten hatte sich der Gouverneur ans Mikrophon gestellt; als er verkündete, heute sei Hotel Statler Day im gesamten Staat Massachusetts, brandete frenetischer Jubel auf. Im selben Augenblick spürte Joe, wie Emma ihn mit dem Ellbogen nach links dirigierte.
Jetzt sah er die dunkle Nische jenseits der Banketttische, der Leuchter, des Marmors und der roten Teppiche.
Im Foyer legte eine Blaskapelle los; die Menge stürzte an die Geländer, Blitzlichter zuckten, ploppten und zischten. Joe fragte sich, ob irgendeinem der Fotoreporter später auffallen würde, wer da auf den Bildern im Hintergrund zu sehen war – dieser Typ im braunen Anzug, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt war.
»Links rüber«, flüsterte Emma.
Joe lief zwischen zwei Banketttischen hindurch, hinter denen der Marmorboden in schmale schwarze Fliesen überging. Nach ein paar weiteren Schritten stand er vor dem Aufzug und drückte auf den Knopf nach unten.
Vier betrunkene Kerle wankten vorbei. Sie waren ein paar Jahre älter als Joe und sangen »Soldiers Field«.
»Oʼer the stands of flaming crimson« , schmalzten sie, ohne auch nur einen richtigen Ton zu treffen, »the Harvard banners fly.«
Abermals betätigte Joe den Knopf.
Einer der Männer musterte ihn kurz, glotzte dann aber auf Emmas Hintern. Er stieß seinen Nebenmann an, während sie lauthals weitersangen: »Cheer on like volleyed thunder echoes to the sky.«
Emmas Hand streifte die seine. »Verdammte Scheiße«, sagte sie.
Wieder drückte er auf den Knopf.
Links von ihnen knallten zwei Schwingtüren, als ein Kellner unvermittelt auf den Gang trat, ein großes Tablett auf der hochgereckten Hand. Er war nur anderthalb Meter entfernt, schenkte ihnen aber keine Beachtung.
Die Harvard-Burschen waren nicht mehr zu sehen, aber nach wie vor zu hören:
»Then fight, fight, fight! For we win tonight!«
Emma streckte die Hand nach dem Fahrstuhlknopf aus, um es selbst zu versuchen.
»Old Harvard forevermore!«
Joe überlegte, ob sie nicht besser durch die Küche verschwinden sollten, doch wahrscheinlich handelte es sich ohnehin bloß um einen engen Verschlag mit bestenfalls einem Speiseaufzug, mit dem die Kanapees aus der zwei Etagen tiefer gelegenen Hauptküche nach oben befördert wurden. Im Nachhinein betrachtet wäre es um einiges schlauer gewesen, wenn Emma zu ihm gekommen wäre statt umgekehrt. Tja, hätte er nur einen kühlen Kopf bewahrt – nur dass er sich nicht erinnern konnte, wann er zuletzt einen klaren Gedanken gefasst hatte.
Er war gerade im Begriff, nochmals auf den Knopf zu drücken, als er hörte, wie der Lift kam.
»Dreh dich einfach um, wenn jemand drin ist«, sagte er. »Die sind garantiert in Eile.«
»Aber nicht mehr, wenn sie meinen Rücken sehen«, erwiderte sie, und er musste trotz seiner Sorgen lächeln.
Der Aufzug kam, doch die Türen öffneten sich nicht. Er wartete fünf Herzschläge lang und zog das Gitter und dann die Türen auf. Der Lift war leer. Über die Schulter warf er Emma einen Blick zu, und sie stieg ein. Er folgte ihr, schloss Gitter und Tür, legte den Hebel um, und schon fuhren sie abwärts.
Sie legte die flache Hand an seinen Hosenlatz, und er wurde sofort hart, während sie ihre Lippen auf die seinen presste. Als er die freie Hand unter ihr Kleid gleiten ließ, die Hitze zwischen ihren Schenkeln spürte, stöhnte sie in seinen Mund. Ihre Tränen tropften auf seine Wangen.
»Warum weinst du?«
»Weil ich dich vielleicht doch liebe.«
»Vielleicht?«
»Ja.«
»Aber dann lach doch lieber.«
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich kann nicht.«
»Kennst du den Busbahnhof an der St. James?«
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was? Ja, na klar.«
Er drückte ihr den Schließfachschlüssel in die Hand. »Nur für den Fall, dass etwas passiert.«
»Was meinst du?«
»Zwischen hier und der Freiheit.«
»Nein«, gab sie zurück. »Kommt nicht in Frage. Nimm du das. Ich will das nicht.«
Er hob die Hände.
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