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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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konnten.
    Der Bus hielt an, und Mr.   Hammond und eine weitere Wache machten ihre Fußfesseln los. Norman fing an zu zittern, und dann begann er auch noch zu flennen. Die Tränen liefen ihm in Bächen über die Wangen, tropften wie Schweiß von seinem Kinn.
    »Norman«, sagte Joe.
    Norman sah zu ihm herüber.
    »Krieg dich wieder ein.«
    Doch Norman gelang es einfach nicht.
    Seine Zelle befand sich im obersten Gang des Ostflügels. Sie lag den ganzen Tag über in der prallen Sonne, und die Hitze hielt sich während der Nacht. In den Zellen selbst gab es keinen elektrischen Strom, der den Korridoren, dem Speisesaal und dem Hinrichtungsstuhl im Todestrakt vorbehalten war. Die Zellen wurden mit Kerzen beleuchtet. Fließend Wasser war noch Zukunftsmusik, weshalb die Insassen mit einem Holzeimer als Toilette vorliebnehmen mussten. Eigentlich handelte es sich um eine Einzelzelle, in die man allerdings vier Betten hineingestellt hatte. Seine drei Zellengenossen hießen Oliver, Eugene und Tooms. Oliver und Eugene waren stinknormale Null-acht-fünfzehn-Kriminelle, der eine aus Revere, der andere aus Quincy. Beide hatten seinerzeit das eine oder andere Ding für Tom Hickey gedreht. Zwar waren sie Joe noch nie über den Weg gelaufen, hatten auch noch nie von ihm gehört, doch nachdem sie ein paar Namen ausgetauscht hatten, wussten sie, dass er koscher genug und es nicht nötig war, ihn einfach mal pro forma durch die Mangel zu drehen.
    Tooms war älter und um einiges schweigsamer, seine Haare so drahtig wie der Rest seines Körpers, und hinter seinen Augen lebte irgendetwas durch und durch Verdorbenes, auf das man lieber keinen genaueren Blick werfen wollte. Als die Sonne unterging, hockte er oben auf seiner Pritsche, ließ die Beine über die Kante baumeln, und immer wieder merkte Joe, wie Tooms ihn mit leeren Augen anstarrte, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte, außer seinen Blick beiläufig zu erwidern und wieder wegzusehen.
    Joe schlief auf einer der unteren Pritschen gegenüber von Oliver. Die Matratze war durchgelegen, und die grobe, mottenzerfressene Decke stank wie feuchter Pelz. Er döste ein wenig, schlief aber keine einzige Sekunde.
    Am nächsten Morgen kam Norman auf dem Hof auf ihn zu. Er hatte zwei blaue Augen und anscheinend auch eine gebrochene Nase. Joe wollte ihn gerade fragen, was passiert war, als Norman ihm einen finsteren Blick zuwarf, sich auf die Unterlippe biss und Joe unvermittelt einen Schlag gegen den Hals verpasste. Joe wich nach rechts aus und ignorierte den Schmerz, während er kurz überlegte, ob er Norman fragen sollte, welcher Teufel ihn gerade ritt. Doch dazu hatte er keine Zeit, da Norman mit ungelenk erhobenen Armen erneut auf ihn losging. Und sobald er nicht mehr nach seinem Kopf schlug, sondern seinen Rumpf attackierte, war Joe erledigt. Seine gebrochenen Rippen waren längst nicht verheilt; wenn er sich morgens aufsetzte, taten ihm die Knochen noch immer so weh, dass er Sterne sah. Seine Hacken scharrten im Dreck, während er hin- und hertänzelte. Die Wachen auf dem Turm waren offensichtlich damit beschäftigt, den westlich gelegenen Fluss oder das östlich gelegene Meer im Auge zu behalten. Als Norman ihm einen weiteren Hieb gegen den Hals versetzte, hob Joe den Fuß und trat mit voller Wucht gegen seine Kniescheibe.
    Norman stürzte rücklings in den Staub; sein rechtes Bein war seltsam verdreht. Er wälzte sich im Staub und versuchte dann, sich mit dem Ellbogen aufzurichten. Als Joe ein zweites Mal auf das Knie stampfte, hörte der halbe Hof, wie Normans Bein brach. Das, was seiner Kehle entwich, war kein richtiger Schrei, sondern ein gedämpfter tiefer Laut, wie ihn vielleicht ein Hund ausstieß, nachdem er zum Sterben unter ein Haus gekrochen war.
    Norman sackte zurück in den Staub, und die Tränen flossen ihm aus den Augenwinkeln in die Ohren. Joe war bewusst, dass er Norman hätte aufhelfen können, da keine Gefahr mehr von ihm ausging, doch das wäre ihm als Schwäche ausgelegt worden. Und so ließ er ihn einfach im Dreck liegen. Während er über den Hof marschierte – es war gerade mal neun Uhr morgens und bereits brütend heiß –, spürte er die Blicke, die auf ihm lasteten, alle, alle glotzten sie zu ihm herüber, während sie bereits überlegten, welcher Test als nächster folgen sollte, wie lange sie mit der Maus spielen würden, ehe sie die Krallen einsetzten.
    Norman war gar nichts. Eine Aufwärmnummer. Und wenn hier jemand spitzkriegte, wie es um Joes

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