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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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seiner Brust. Ein tiefes Gefühl des Mitleids beschlich ihn, wie er es sonst vielleicht für einen streunenden Hund im nächtlichen Regen empfunden hätte. Beide waren sie nun Gefangene, sein Herz und er, rüttelten verzweifelt an den Gittern, denen sie nicht entkommen konnten.
    Sein Vater warf einen Blick auf seine Taschenuhr und steckte sie wieder an. »Direkt in der ersten Woche wird dich jemand einzuschüchtern versuchen. Spätestens in der zweiten. Du wirst schon an seinem Blick erkennen, was er von dir will.«
    Joe hatte plötzlich einen trockenen Mund.
    »Und dann wird sich irgendeiner – ein echt netter Bursche – im Hof oder im Speisesaal vor dich stellen. Den anderen Kerl in die Schranken weisen und dir anschließend seinen Schutz anbieten. Joe? Hör mir genau zu. Diesem Typ zeigst du, wo der Hammer hängt. Du machst ihn so fertig, dass er nie wieder etwas gegen dich ausrichten kann. Nimm dir seinen Ellbogen oder die Kniescheibe vor. Oder beides.«
     Eine Vene an Joes Kehle fing heftig an zu pochen. »Und dann lassen sie mich in Frieden?«
    Sein Vater bedachte ihn mit einem schmallippigen Lächeln und nickte, doch dann verschwand das Lächeln, und er nickte auch nicht mehr. »Nein.«
    »Und was kann ich dagegen tun?«
    Sein Vater wandte einen Moment lang den Blick ab; sein Kiefer mahlte. Als er Joe wieder ansah, war der feuchte Schimmer aus seinen Augen verschwunden. »Nichts.«

7
    Der Schlund der Bestie
    Das Charlestown State Prison war etwas mehr als eine Meile vom Suffolk County Jail entfernt. In der Zeit, die es kostete, sie in den Bus zu verfrachten und ihre Fußfesseln am Boden anzuketten, hätten sie die Strecke auch zu Fuß gehen können. An jenem Morgen wurden vier von ihnen ins Zuchthaus überstellt – ein dünner Schwarzer und ein fetter Russe, deren Namen Joe nie erfuhr, ein zarter, schüchterner weißer Junge namens Norman und Joe. Norman und Joe hatten das eine oder andere Mal miteinander gesprochen, da sich ihre Zellen gegenübergelegen hatten. Norman hatte das Pech gehabt, sich in die Tochter seines Arbeitgebers zu vergucken, der am Fuß von Beacon Hill einen Mietstall betrieb. Das Mädchen, fünfzehn Jahre alt, war schwanger geworden, und Norman, siebzehn und seit seinem zwölften Lebensjahr Waise, wegen Vergewaltigung zu drei Jahren Hochsicherheitsgefängnis verurteilt.
    Er hatte Joe erzählt, er habe die Bibel gelesen und sei bereit, für seine Verfehlungen zu büßen. Der Herr sei sein Hirte, und in jedem Menschen stecke etwas Gutes, selbst in den niedrigsten, gemeinsten Individuen, ja, er ging sogar davon aus, hinter den Gefängnismauern mehr Herzensgüte zu finden, als ihm jenseits von ihnen zuteil geworden war.
    Nie war Joe eine verängstigtere Kreatur unter die Augen gekommen.
    Während der Bus über die Charles River Road holperte, überprüfte eine der Wachen abermals ihre Fußfesseln und stellte sich ihnen als Mr.   Hammond vor. Er informierte sie darüber, dass sie im Ostflügel untergebracht würden, mit Ausnahme des Niggers natürlich, der zu seinesgleichen in den Südflügel wandern würde.
    »Aber die Regeln gelten für alle von euch, ungeachtet eurer Hautfarbe oder Religion. Seht niemals einem Wärter in die Augen. Dem Befehl eines Wärters ist stets und unmittelbar Folge zu leisten. Das Betreten des Kieswegs an der Hofmauer ist strengstens untersagt. Dasselbe gilt für ungebührliche körperliche Annäherungsversuche. Sitzt einfach eure Zeit ab, ohne aufzumucken, und wir werden in trauter Eintracht den Pfad eurer Resozialisierung beschreiten.«
    Das Zuchthaus war über hundert Jahre alt; zu den ursprünglichen Gebäuden aus dunklem Granit waren neuere Bauten aus rotem Backstein gekommen. Im Zentrum der kreuzförmigen Anlage befand sich ein Turm, der sich hoch über die vier Gebäudeflügel erhob; die Kuppel des Turms war rund um die Uhr mit vier bewaffneten Wachen besetzt, eine für jede Fluchtrichtung. Gleisanlagen und Fabriken, Gießereien und Webereien umgaben den Gefängniskomplex, erstreckten sich vom North End den Fluss hinunter bis nach Somerville. In den Fabriken wurden Öfen, in den Webereien Textilien hergestellt, und in den Gießereien roch es nach Magnesium, Kupfer und Eisenlegierungen. Als der Bus den Hügel hinunterfuhr, verschwand der Himmel hinter einer Wand aus Rauchschwaden. Der langgezogene Pfiff eines Frachtzugs ertönte, und sie mussten warten, bis sie die Schienen überqueren und die letzten dreihundert Meter zum Zuchthausgelände fahren

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