In der Nacht (German Edition)
gewappnet.« Thomas setzte seinen Hut auf und zog die Krempe zurecht, bis er richtig saß.
Bondurant betrachtete das Foto. »Ich sehe mal, was sich machen lässt.«
»Damit ist mir nicht geholfen.«
»Das habe ich nicht allein zu entscheiden.«
»Fünf Jahre«, sagte Thomas. »Ende der Diskussion.«
Zwei weitere Wochen verstrichen, ehe der Unterarm einer Frau in der Nähe von Nahant angespült wurde. Drei Tage später fand ein Fischer vor der Küste von Lynn einen Oberschenkelknochen in seinem Netz. Der Pathologe stellte fest, dass Oberschenkelknochen und Unterarm von derselben Person stammten – einer Frau Anfang zwanzig, wahrscheinlich nordeuropäischer Herkunft, mit blassem, sommersprossigem Teint.
Im Verfahren The Commonwealth of Massachusetts gegen Joseph Coughlin bekannte sich Joe der Beihilfe zu einem Banküberfall schuldig. Er wurde zu fünf Jahren und vier Monaten Zuchthaus verurteilt.
Er wusste, dass sie noch am Leben war.
Er wusste es, weil alles andere unerträglich für ihn gewesen wäre. Er musste einfach daran glauben, weil er ohne diese Gewissheit einer Leere ausgeliefert war, die ihn schier zu erdrosseln schien.
»Sie ist tot«, sagte sein Vater zu ihm, kurz bevor Joe vom Suffolk County Jail in die Strafanstalt von Charlestown gebracht wurde.
»Nein, ist sie nicht.«
»Du solltest dich mal reden hören.«
»Niemand hat gesehen, dass sie in dem Wagen saß, als er von der Straße abgekommen ist.«
»Bei dem Regen und dem Tempo? Die Kerle haben sie in dem Auto verschleppt. Der Wagen ist in die Bucht gestürzt – und sie dabei umgekommen und ins Meer hinausgetrieben.«
»Das glaube ich erst, wenn ich ihre Leiche gesehen habe.«
»Die Leichen teile waren dir noch nicht genug?« Entschuldigend hob sein Vater die Hand. In ruhigerem Tonfall fuhr er fort: »Wann nimmst du endlich Vernunft an?«
»Was hat das mit Vernunft zu tun? Ich weiß, dass sie nicht tot ist.«
Je öfter Joe es sagte, desto sicherer wusste er, dass sie nicht mehr am Leben war. Er spürte es genauso untrüglich, wie er gespürt hatte, dass sie ihn liebte, auch wenn sie mit einem anderen Mann ins Bett gegangen war. Doch was blieb ihm jetzt noch, nachdem er zu fünf Jahren im schlimmsten Knast weit und breit verurteilt worden war? An Freunde, Gott, Familie konnte er sich jedenfalls nicht mehr klammern.
»Sie lebt noch, Dad.«
Sein Vater musterte ihn schweigend. »Was hast du an ihr geliebt?«, fragte er dann.
»Wie bitte?«
»Was hast du an dieser Frau geliebt?«
Joe überlegte, versuchte die richtigen Worte zu finden, und schließlich fielen ihm ein paar ein, die ihm nicht ganz so unzulänglich wie all die anderen erschienen. »Ich hatte das Gefühl, dass in meiner Gegenwart ein anderer Mensch aus ihr wird. Jedenfalls hat sie mir ein ganz anderes Gesicht gezeigt als dem Rest der Welt. Sie war irgendwie, na ja, weicher.«
»Dann hast du ein Potential geliebt, keine Frau.«
»Was weißt du schon?«
Sein Vater reckte das Kinn. »Du warst das Kind, das den Riss zwischen uns kitten sollte – zwischen deiner Mutter und mir. War dir das bewusst?«
»Ich wusste, dass ihr euch nichts mehr zu sagen habt.«
»Dann ist dir ja auch klar, wie gut der Plan funktioniert hat. Kein Mensch kann einen anderen ändern. Menschen bleiben stets das, was sie schon immer waren.«
»Das glaube ich nicht.«
»Du willst es nicht glauben.« Sein Vater schloss die Augen. »Jeder Atemzug, Junge, ist pures Glück.« Ein rosa Schimmer stand in seinen Augenwinkeln, als er die Lider wieder öffnete. »Alles, was du im Leben erreichst, hängt von Glück ab – davon, zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren zu sein und die richtige Hautfarbe zu haben. Davon, lang genug zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu leben, um es zu etwas zu bringen, nach oben zu kommen. Sicher, Talent und harte Arbeit gehören auch dazu, gar keine Frage, und du weißt genau, dass ich das keine Sekunde in Abrede stellen würde. Aber letztlich beruht alles auf Glück, das ganze Leben, und wenn du es in Händen hältst, zerrinnt es dir bereits zwischen den Fingern. Also hör endlich auf, deine Zeit mit einem toten Mädchen zu verschwenden, das dich sowieso nicht wert war.«
Joe musste hart schlucken, sagte aber nur: »Du hast dein Glück beim Schopf gepackt, Dad.«
»Nicht immer«, erwiderte sein Vater. »Manchmal war es auch umgekehrt.«
Eine Weile lang schwiegen sie. Joes Herz schlug so heftig wie nie zuvor in seinem Leben, hämmerte wie eine panische Faust in
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