In der Nacht (German Edition)
was sich noch als echter Glücksfall für Sie erweisen könnte.«
»Inwiefern?«, fragte Thomas.
»Durch die brutale Misshandlung steht Ihr Sohn jetzt in der Öffentlichkeit als Opfer da. Die Staatsanwaltschaft kann kein Interesse daran haben, den Fall groß auszubreiten. Sie ist bloß gezwungen , sich damit zu beschäftigen.«
»Bondurant ist momentan Oberstaatsanwalt, nicht wahr?«, fragte Joe.
D’Jarvis nickte. »Kennen Sie ihn?«
»Ich weiß, wer er ist«, erwiderte Joe. Die Furcht stand ihm ins geschwollene Gesicht geschrieben.
»Thomas?« D’Jarvis’ Augen funkelten. »Kennen Sie Bondurant?«
»Und ob«, sagte Thomas.
Calvin Bondurant hatte eine Lenox aus Beacon Hill geehelicht und mit ihr drei gertenschlanke Töchter gezeugt, von denen eine erst kürzlich mit einem Lodge vermählt worden war – die Zeitungen hatten auf ihren Gesellschaftsseiten ausführlich darüber berichtet. Bondurant war ein unermüdlicher Verfechter der Prohibition, ein unerschrockener Kreuzritter wider alle nur erdenklichen Zügellosigkeiten, die sich, wie er ein ums andere Mal öffentlich betonte, speziell den unteren Klassen und den minderwertigen Rassen verdankten, die in den letzten siebzig Jahren an die Gestade dieses großartigen Lands gespült worden waren. Da sich die Einwanderer der letzten siebzig Jahre vornehmlich aus zwei »Rassen« rekrutierten – Iren und Italienern –, ließ sich Bondurants Diktum nicht gerade als sehr subtil bezeichnen. Doch wenn er in ein paar Jahren für das Gouverneursamt kandidierte, würden ihm seine Geldgeber in Back Bay und Beacon Hill nur allzu gern zur Wahl verhelfen.
Bondurants Sekretärin führte Thomas in sein Büro in der Kirkby Street und schloss die Tür hinter ihnen. Calvin wandte sich vom Fenster ab und musterte Thomas mit ausdrucksloser Miene.
»Ich habe Sie schon erwartet.«
Zehn Jahre zuvor hatte Thomas den Staatsanwalt im Zuge einer Razzia hopsgenommen. Bondurant hatte sich in einer Absteige mit reichlich Champagner und einem jungen Mann mexikanischer Herkunft verlustiert. Wie sich herausstellte, konnte der Mexikaner nicht nur auf eine ertragreiche Karriere als Lustknabe zurückblicken, sondern hatte obendrein Pancho Villas Division del Norte angehört und wurde in seiner Heimat wegen Hochverrats gesucht. Thomas hatte den Revolutionär nach Chihuahua überstellt und dafür gesorgt, dass Bondurants Name aus den Unterlagen verschwand.
»Tja, da wäre ich«, sagte Thomas.
»Erstklassiger Trick, wie es Ihnen gelungen ist, Ihren Sohn als Opfer dastehen zu lassen. Sind Sie tatsächlich so clever, Deputy Superintendent?«
»Niemand ist so clever.«
Bondurant schüttelte den Kopf. »Manche Leute schon. Und Ihnen würde ich es durchaus zutrauen. Sagen Sie Ihrem Sohn, er soll sich schuldig bekennen. Die drei toten Cops werden morgen beerdigt, und sämtliche Zeitungen werden flächendeckend darüber berichten. Wenn er den Bankraub gesteht, werde ich ein Strafmaß von zwölf Jahren ins Auge fassen.«
» Zwölf Jahre?«
»Für drei tote Cops ist das ein Witz, Thomas.«
»Fünf.«
»Was?«
»Fünf«, wiederholte Thomas.
»Keine Chance.« Bondurant schüttelte den Kopf.
Thomas ließ sich in einem der Sessel nieder und musterte Bondurant wortlos.
Abermals schüttelte Bondurant den Kopf.
Thomas lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.
»Hören Sie mir zu«, sagte Bondurant.
Kaum merklich reckte Thomas das Kinn.
»Ich fürchte, ich muss Ihnen ein paar Illusionen nehmen, Deputy Superintendent.«
»Chief Inspector.«
»Pardon?«
»Man hat mich gestern zum Chief Inspector degradiert.«
In Bondurants Augen spiegelte sich ein Lächeln – ein leises Funkeln, dann war es auch schon wieder verschwunden. »Dann kann ich Ihnen Ihre Illusionen ja lassen.«
»Ich mache mir keine Illusionen«, sagte Thomas. »Ich bin Pragmatiker.« Er holte eine Fotografie aus seiner Jacke und legte sie auf Bondurants Schreibtisch.
Bondurant warf einen Blick auf das Bild. Es zeigte eine verblichene rote Tür, auf der die Ziffer 29 stand. Es war die Eingangstür eines Reihenhauses in Back Bay. Diesmal sah Bondurant alles andere als erfreut aus.
Thomas deutete auf das Bild. »Wenn Sie sich ein anderes Liebesnest suchen, erfahre ich das innerhalb einer Stunde. Wie ich höre, stocken Sie gerade Ihre Kriegskasse für Ihre Kandidatur bei den Gouverneurswahlen auf. Sorgen Sie dafür, dass sie bis obenhin gefüllt ist. Mit einer fetten Kriegskasse ist man gegen alle Unwägbarkeiten
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