In der Nacht (German Edition)
revanchierten sich, indem sie einen Fleischerladen in der Morton Street in die Luft jagten, der als Tarnung für Alberts Geschäfte diente. Der Frisiersalon und die Kurzwarenhandlung nebenan brannten ebenfalls bis auf die Grundmauern nieder, und von mehreren Automobilen blieben nur Blechgerippe übrig.
Bis jetzt gab es keinen Sieger. Nur Chaos.
Während Joe und Maso einen Augenblick an der Mauer verharrten und den Mond betrachteten, der sich wie eine riesige Orange über den Fabrikschornsteinen und der von Asche verregneten Landschaft erhob, griff der Alte in seine Tasche und reichte Joe ein zusammengefaltetes Stück Papier.
Mittlerweile sah Joe sich die Zettel nicht einmal mehr an, pflegte sie lediglich noch weitere zwei, drei Mal zu falten und in dem Schlitz zu verstecken, den er in seine Schuhsohle geschnitten hatte. Doch diesmal kam er nicht dazu.
»Lies das«, sagte Maso.
Joe sah ihn an. Der Mond beleuchtete die Umgebung beinahe taghell.
Maso nickte.
Joe entfaltete das Stück Papier. Im ersten Moment verstand er nur Bahnhof, als er die beiden Wörter auf dem Zettel sah.
Brendan Loomis.
»Er ist gestern Abend verhaftet worden«, sagte Maso. »Hat einem Typen bei Filene die Fresse poliert. Weil er auf denselben Mantel scharf war. Der Kerl hat sie nicht alle. Tja, aber das Opfer hat Freunde, was wiederum bedeutet, dass Albert Whites rechte Hand so bald nicht wieder einsatzfähig ist.« Sein Gesicht schimmerte orangefarben im Mondlicht. »Du hasst das Schwein?«
»Und wie«, sagte Joe.
»Gut.« Maso tätschelte seinen Arm. »Dann gib das deinem Vater.«
Am unteren Rand des Drahtgeflechts zwischen Joe und seinem Vater befand sich eine kleine Lücke, durch die man Botschaften hin- und herbefördern konnte. Joe musste nur noch den Zettel durch die Lücke schieben, doch er brachte es nicht über sich, seine Hand zum Gitter zu bewegen.
Der Teint seines Vaters war während jenes Sommers fast durchsichtig geworden, wie die Haut einer Zwiebel, und die Venen in seinen Händen leuchteten unnatürlich Blau. Sein Haar war schütter, die Lider wirkten schwer, die Schultern hingen kraftlos herab. Man sah ihm jede einzelne Sekunde seiner neunundfünfzig Jahre an.
Doch an jenem Morgen klang seine Stimme wieder ein wenig entschlossener, und im gebrochenen Grün seiner Augen schimmerte neue Lebenskraft.
»Rat mal, wer unsere schöne Stadt mit seinem Besuch beehrt«, sagte er. »Da kommst du nie im Leben drauf.«
»Wer denn?«
»Dein Bruder. Aiden höchstpersönlich.«
Aha. Das erklärte so einiges. Sein Lieblingssohn hatte sich angekündigt. Der geliebte verlorene Sohn.
»Wie, Danny kommt? Wo hat er die ganze Zeit gesteckt?«
»Oh, so ziemlich überall«, sagte Thomas. »Er hat mir einen endlos langen Brief geschrieben – eine Viertelstunde habe ich gebraucht, um ihn zu lesen. Er war in Tulsa und Austin, sogar in Mexiko. Zuletzt hat er sich offenbar in New York aufgehalten. Morgen kommt er jedenfalls zu Besuch.«
»Mit Nora?«
»Von ihr war keine Rede«, sagte Thomas in einem Tonfall, der deutlich durchblicken ließ, dass ihm das so auch lieber war.
»Hat er geschrieben, was er hier vorhat?«
Thomas schüttelte den Kopf. »Anscheinend ist er bloß auf der Durchreise.« Er schwieg einen Augenblick, während er den Blick über die Wände schweifen ließ, als könne er sich ums Verrecken nicht an ihren Anblick gewöhnen. Was wohl auch zu viel verlangt war – wer konnte das schon außer denen, die keine andere Wahl hatten? »Und? Hältst du durch?«
»Ich…« Joe zuckte mit den Schultern.
»Was?«
»Ich versuch’s, Dad. Ich versuch’s.«
»Tja, da bleibt dir auch wenig anderes übrig.«
»Sieht so aus.«
Wortlos musterten sie sich durch das Drahtgeflecht, und schließlich brachte Joe doch den Mut auf, das Stück Papier in seiner Hand durch die Lücke zu schieben.
Thomas Coughlin entfaltete den Zettel und starrte auf den Namen, der dort stand. Einen schier endlosen Moment lang war Joe sich nicht sicher, ob er überhaupt noch atmete. Und dann…
»Nein.«
»Was?«
»Nein.« Thomas schob den Zettel zurück und wiederholte: »Nein.«
»Das wird Maso nicht akzeptieren, Dad.«
»Ach, ihr duzt euch schon?«
Joe schwieg.
»Ich übernehme keine Auftragsmorde, Joseph.«
»Darum geht’s doch gar nicht«, erwiderte Joe, während er sich gleichzeitig fragte: Wirklich?
»Wie naiv bist du eigentlich?« Langsam ließ sein Vater den Atem durch die Nase entweichen. »Wenn sie dir den Namen eines Mannes geben,
Weitere Kostenlose Bücher