In der Nacht (German Edition)
ausgeprägte Vorliebe für Tincture No. 23 entwickelt, ein Allheilmittel, das sie seit einer der Fehlgeburten nahm, die Joe vorausgegangen waren. Damals hatte sich ihr Faible noch nicht zu dem Problem ausgewachsen, zu dem es schließlich werden sollte, zumindest hatte sich Thomas das eingeredet. Dennoch musste er an jenem Morgen eine Art siebten Sinn gehabt haben, da ihm sofort klar war, dass Joe unbeaufsichtigt im Garten spielte. Und so lag er im Bett und lauschte seinem Sohn, der offensichtlich zwischen Garten und Veranda auf und ab lief und dabei vor sich hin brabbelte – bis er sich schließlich fragte, wieso sein Sohn eigentlich dauernd hin und her ging.
Er stand auf, zog seinen Morgenmantel an und schlüpfte in seine Hausschuhe. Ellen saß mit einer Tasse Tee am Tisch und lächelte mit leerem Blick, als er die Küche betrat. Und dann stieß er die Tür zur Veranda auf.
Im ersten Moment hätte er um ein Haar laut aufgeschrien. Am liebsten wäre er auf die Knie gesunken und hätte dem lieben Gott sein Leid geklagt. Seine Karotten, seine Pastinaken und Tomaten – alle noch so grün wie Gras – lagen auf der Veranda, ihre Wurzeln auf den schmutzigen Dielen ausgebreitet wie struppiges Haar. Und dann kam auch schon Joe über den Rasen, einen weiteren Teil seiner Ernte in Händen – diesmal die Rote Bete. Er hatte sich in einen Maulwurf verwandelt, sah aus, als hätte er stundenlang in der Erde gewühlt. Nur das Weiß seiner Augen stach aus seinem vor Schmutz starrenden Gesicht, und dann das Weiß seiner Zähne, als er mit strahlendem Lächeln zu Thomas aufsah.
»Hi, Daddy.«
Thomas war sprachlos.
»Schau, ich helfe dir, Daddy.« Joe legte eine Rübe zu seinen Füßen nieder und lief wieder in den Garten.
Die Arbeit eines Jahres ruiniert, die Ernte eines Herbsts vernichtet. Während Thomas seinem Sohn hinterhersah, der sich gerade anschickte, sein zerstörerisches Werk zu vollenden, entrang sich seinem Innersten ein Lachen, das ihn selbst am meisten überraschte. Er lachte so laut, dass die Eichhörnchen im nächstgelegenen Baum auf die höchsten Äste flüchteten. Er lachte so laut, dass die Veranda unter ihm erbebte.
Noch immer musste er unwillkürlich lächeln, wenn er sich daran erinnerte.
Erst kürzlich hatte er seinem Sohn erklärt, dass es Glück war, was das Leben ausmachte. Doch wie ihm das zunehmende Alter gezeigt hatte, beruhte es auch auf Erinnerungen. Die Erinnerung an so manche Momente war oft größer als die Augenblicke selbst.
Aus reiner Gewohnheit griff er nach seiner Uhr, ehe ihm einfiel, dass sie nicht mehr in seiner Westentasche steckte. Die Wahrheit über die Uhr war ein wenig komplizierter als die Legende, die sie umgab. Der Wahrheit entsprach, dass sie ein Geschenk von Barrett W. Stanford Senior gewesen war. Auch stand außer Frage, dass Thomas sein Leben für Barrett W. Stanford II. riskiert hatte, den Leiter der First-Boston-Bankfiliale am Codman Square. Richtig war auch, dass Thomas in Ausübung seiner Pflichten einen gewissen Maurice Dobson, 26, mit einem Schuss aus seinem Dienstrevolver getötet hatte.
In jenem Moment, ehe er den Abzug drückte, hatte Thomas im Blick Maurice Dobsons dessen wahre Absichten erkannt. Zuerst hatte er der Geisel, Barrett W. Stanford II ., davon erzählt, und dann dieselbe Geschichte Eddie McKenna, seinem Einsatzleiter, und schließlich den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses aufgetischt. Barrett W. Stanford Senior war so überglücklich gewesen, dass er Thomas aus lauter Dankbarkeit eine Uhr geschenkt hatte, die ihm seinerzeit in Zürich von Joseph Emile Philippe höchstpersönlich vorgeführt worden war. Thomas versuchte das extravagante Geschenk mehrmals zurückzuweisen, doch Barrett W. Stanford Senior wollte nichts davon hören.
Und so hatte er die Uhr all die Jahre getragen, zwar nicht mit Stolz, wie so viele glaubten, aber doch mit einer ebenso geheimen wie tief empfundenen Genugtuung. Der Legende zufolge war Maurice Dobson drauf und dran gewesen, den jungen Barrett W. Stanford II . zu töten. Und wer konnte diese Sicht der Dinge schon anzweifeln, gemessen daran, dass Dobson einen Pistolenlauf an Barretts Hals gedrückt hatte?
Doch Thomas hatte in jenem letzten Moment – und mehr als ein Moment war es tatsächlich nicht gewesen – etwas ganz anderes in Maurice Dobsons Blick erkannt: seine Kapitulation. Er war nur vier Fuß von ihm entfernt gewesen, den Dienstrevolver in der ausgestreckten Hand, mehr als bereit, jeden
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