Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
Vom Netzwerk:
Sekundenbruchteil den Finger am Abzug zu krümmen – und bereit musste man sein, sonst konnte man die Waffe auch gleich stecken lassen –, und in jenem Augenblick, als er in Maurice Dobsons kieselgrauen Augen las, dass er sich in sein Schicksal ergeben, mit Festnahme und Zuchthaus abgefunden hatte, fühlte sich Thomas schlicht betrogen – doch erst als er den Abzug betätigte, ging ihm auf, warum.
    Die Kugel drang in das linke Auge des unglückseligen Maurice Dobson ein – der schon tot war, bevor er auf dem Boden aufschlug – , und versengte das Gesicht von Barrett W. Stanford II . knapp unterhalb der Schläfe. Als das Geschoss seine Bestimmung erfüllte, endgültig und unwiderruflich, verstand Thomas mit einem Mal, warum er sich betrogen gefühlt und zu so drastischen Maßnahmen gegriffen hatte.
    Wenn zwei Männer ihre Waffen aufeinander richteten, wurde zwischen ihnen vor Gott ein Vertrag geschlossen, der nur dadurch erfüllt werden konnte, dass einer von beiden sein Gegenüber ins Jenseits schickte.
    So ähnlich war es ihm damals jedenfalls vorgekommen.
    In all den Jahren hatte Thomas niemandem gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlauten lassen, was er tatsächlich in Maurice Dobsons Blick gesehen hatte; selbst Eddie McKenna, mit dem er die meisten seiner Geheimnisse teilte, hatte er nicht eingeweiht. Doch obwohl er keineswegs stolz darauf war, was er an jenem Tag getan hatte, und so auch nicht stolz auf die Uhr sein konnte, verließ er das Haus nie ohne sie, da sie von der tiefgreifenden Verantwortung zeugte, die seinen Beruf kennzeichnete – sie vollstreckten nicht vom Menschen gemachte Gesetze, sondern vielmehr den Willen der Natur. Und offenbarte sich Gott nicht am deutlichsten in der Erhabenheit eines Ozeans, der Härte eines bitterkalten Winters? Gott war kein weißgewandeter Wolkenkönig, der über all dem menschlichen Weh und Ach sentimentale Anwandlungen bekam. Er war die Quintessenz der Welt, das Eisen, aus dem ihr Kern bestand, er war das Feuer in den Hochöfen, die das Eisen in Stahl verwandelten und hundert Jahre brannten, deren Flammen am nächtlichen Himmel leckten. Gott war das Gesetz des Eisens, das Gesetz des Feuers und das Gesetz der Natur. Das eine war nicht denkbar ohne das andere.
    Und du, Joseph, mein Jüngster, mein verirrter Romantiker, du Stachel in meinem Herzen – nun ist es an dir, deine Umgebung an diese Gesetze zu erinnern, das Pack, dem du auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bist. Sobald du Schwäche zeigst, dich unterkriegen, dich brechen lässt, bist du dem Tod geweiht.
    Ich bete für dich, weil einem nur noch Gebete bleiben, wenn man keine Macht mehr hat. Und ich habe keine Macht mehr. Mir sind die Hände gebunden. Ich kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Verdammt, im Augenblick könnte ich dir nicht mal sagen, wie spät es ist.
    Er lachte leise in sich hinein, während er in seinen Garten hinaussah; bald stand die Ernte an. Er betete für Joe. Er betete für die endlos lange Reihe seiner Vorfahren; die meisten waren ihm unbekannt, und dennoch sah er sie ganz deutlich vor sich, einen in alle Winde zerstreuten, von Suff, Hunger und dunklen Trieben gezeichneten Haufen geschundener Seelen. Er wünschte ihnen ewige Ruhe und Frieden, und er wünschte sich einen Enkel.
    Als er Hippo Fasini auf dem Hof begegnete, erzählte Joe ihm, dass sein Vater es sich anders überlegt hatte.
    »Tja, so was kommt vor«, sagte Hippo nur.
    »Außerdem hat er mir eine Adresse zukommen lassen.«
    »Ach ja?« Der Fettsack lehnte sich auf den Fersen zurück, den Blick ins Nirgendwo gerichtet. »Was denn für eine?«
    »Die von Albert White.«
    »Albert White wohnt in Ashmont Hill.«
    »Soweit ich weiß, lässt er sich da nicht mehr blicken.«
    »Dann gib mir die Adresse.«
    »Du kannst mich mal.«
    Hippo Fasinis Dreifachkinn sackte in seinen Häftlingsdrillich, als er zu Boden sah. »Wie bitte?«
    »Sag Maso, dass ich ihm die Adresse heute Abend persönlich gebe. Oben auf der Mauer.«
    »Für dich gibt’s hier keine Extrawürste, Junge.«
    Joe sah ihn so lange schweigend an, bis Hippo den Blick hob. »Und ob«, sagte er dann, wandte ihm den Rücken zu und ging.
    Eine Stunde vor seinem Treffen mit dem alten Pescatore übergab sich Joe zweimal in den Holzkübel. Seine Hände zitterten, selbst sein Kinn und die Lippen bebten. Das Blut rauschte in seinen Adern, dass es sich anhörte, als würde es mit Fäusten gegen seine Trommelfelle hämmern. Den präparierten Schraubenzieher

Weitere Kostenlose Bücher