In der Nacht (German Edition)
hatte er mit einem ledernen Schnürsenkel an seinem Handgelenk befestigt. Kurz bevor er seine Zelle verließ, sollte er ihn sich zwischen die Arschbacken stecken. Emil Lawson hatte ihm dringlich geraten, sich das Teil in den Arsch zu schieben, doch die Vorstellung, dass ihn einer von Masos Handlangern, aus welchen Gründen auch immer, womöglich zum Hinsetzen aufforderte, hatte ihn von der Idee schnell Abstand nehmen lassen. Eigentlich hatte er geplant, den Schraubenzieher zehn Minuten vor Verlassen der Zelle von der einen zur anderen Stelle wandern zu lassen, um sich ans Gehen mit dem Fremdkörper zwischen den Hinterbacken zu gewöhnen, doch dann tauchte vierzig Minuten vorher ein Wärter mit der Neuigkeit auf, dass er einen Besucher hatte.
Draußen wurde es allmählich dunkel. Die Besuchszeit war längst vorbei.
»Wer ist es denn?«, fragte er, während er dem Wärter den Gang hinunter folgte. Jetzt erst merkte er, dass sich das Mordinstrument nach wie vor an seinem Handgelenk befand.
»Jemand, der weiß, wie man die richtigen Hände schmiert.«
»Schon klar.« Joe eilte dem Wärter hinterher, der mit weit ausholenden Schritten vorausging. »Aber wer?«
Der Wärter öffnete die erste Sicherheitstür und winkte Joe hindurch. »Hat gesagt, er wäre dein Bruder.«
Er nahm den Hut ab und duckte sich, als er durch den Türrahmen trat – ein Mann, der die meisten anderen um Haupteslänge überragte. Sein dunkles Haar hatte sich ein wenig gelichtet und war im Lauf der Jahre leicht ergraut. Joe rechnete kurz nach; fünfunddreißig war Danny jetzt. Er sah immer noch verdammt gut aus, wenn auch etwas älter, als Joe ihn in Erinnerung hatte.
Er trug einen dunklen, offenbar häufig getragenen Dreiteiler mit Kleeblattrevers – einen Anzug, wie ihn vielleicht der Verwalter eines Kornspeichers trug oder auch jemand, der viel unterwegs war, etwa ein Handelsvertreter oder ein Gewerkschaftsfunktionär. Darunter trug Danny ein weißes Hemd ohne Krawatte.
Er legte den Hut neben sich und musterte Joe durch das Drahtgeflecht.
»Du liebe Scheiße«, sagte er dann. »Du bist keine dreizehn mehr, oder?«
Joe fiel auf, dass die Augen seines Bruders gerötet waren. »Und du keine fünfundzwanzig.«
Dannys Finger schienen leicht zu zittern, als er sich eine Zigarette ansteckte; eine große Narbe lief über seinen Handrücken, in der Mitte leicht erhöht. »Den Arsch würde ich dir immer noch locker versohlen.«
Joe zuckte mit den Schultern. »Oder auch nicht. Ich habe hier reichlich schmutzige Tricks gelernt.«
Danny zog die Augenbrauen hoch und blies Rauch über seine Lippen. »Er hat uns verlassen, Joe.«
Joe wusste gleich, von wem die Rede war. Irgendwie hatte er es bereits gewusst, als er seinem Vater das letzte Mal gegenübergesessen hatte. Und trotzdem wollte er sich nicht damit abfinden.
»Wer?«
Sein Bruder sah an die Decke, ehe er den Blick wieder auf ihn richtete. »Dad, Joe. Dad ist tot.«
»Wie ist er gestorben?«
»An einem Herzanfall, würde ich sagen.«
»Hast du…«
»Was?«
»Warst du bei ihm?«
Danny schüttelte den Kopf. »Ich bin eine halbe Stunde zu spät gekommen. Er war noch warm, als ich ihn gefunden habe.«
»Und du bist sicher, dass…«
»Was?«
»Dass da niemand nachgeholfen hat?«
»Du lieber Himmel, was machen die hier drin mit dir?« Er ließ den Blick durch den Besucherraum schweifen. »Nein, Joe. Es war entweder ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall.«
»Woher willst du das so genau wissen?«
Danny verengte die Augen. »Weil er gelächelt hat.«
»Was?«
»Als würde er allein Bescheid wissen.« Er lachte leise. »So, als hätte er gerade einen Witz gehört oder sich an etwas von früher erinnert, aus der Zeit, als wir noch gar nicht geboren waren. Du weißt, was ich meine, oder?«
»Ja«, sagte Joe, und zu seiner Überraschung drang das Wort noch einmal kaum hörbar über seine Lippen. »Ja.«
»Nur eins fand ich irgendwie seltsam. Dass seine Uhr weg war.«
In Joes Kopf drehte sich alles. »Hmm?«
»Seine Uhr«, wiederholte Danny. »Sie war nicht da, und sonst hat er doch keinen Schritt ohne das Ding getan.«
»Ich habe sie«, sagte Joe. »Er hat sie mir gegeben, nur für den Fall, dass ich hier drin in Schwierigkeiten gerate.«
»Du hast sie also.«
»Genau.« Die Lüge verursachte ihm Magenschmerzen. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Masos Finger sich um die Uhr geschlossen hatten, und am liebsten hätte er seinen Kopf mit aller Macht gegen die nächste Betonwand
Weitere Kostenlose Bücher